Eine
der vielen drastischen Darstellungen in den wenig beachteten Fresken
des Goldenen Saals im Augsburger Rathaus: Das Motiv dürfte eine
tiefere Bedeutung gehabt haben als nur das derbe Späßchen eines
Malers. Der neu erschienene Reiseführer weist auf zahlreiche
bekannte, aber auch viele unbekannte Ansichten im Renaissancerathaus
hin, dessen Bau vor 400 Jahren vollendet war.
Foto:
Martin Kluger
Zu den drastischen Darstellungen der Wandmalereien im Augsburger Rathaus gehört jener Mann, der dem Betrachter tief gebückt mit breit gespreizten Beinen den nackten Arsch präsentiert. |
Der Arsch im
Rathaus
Elias
Holls Renaissancebau in Augsburg wird 400 Jahre alt – ein neu erschienener
Führer erinnert daran
AUGSBURG/context
verlag/pm.) Die Augsburger Blütezeit im 16. und frühen 17.
Jahrhundert hat derart viele potenzielle Jubiläen und Gedenktage
verursacht, dass man schon den einen oder anderen Anlass zum Feiern
übersehen kann oder gar will – was mal mehr, mal weniger peinlich
ist. Zur ersteren Kategorie zählt zum Beispiel der 250. Todestag des
berühmten Stadtbrunnenmeisters Caspar Walter ausgerechnet in jenem
Jahr 2019, in dem das „Augsburger Wassermanagement-System“ nicht
zuletzt aufgrund der technischen und publizistischen Leistungen eben
jenes Caspar Walter UNESCO-Welterbe wurde und die städtische
Kulturverwaltung dafür zwar sich, nicht aber das Gedenkjahr des
großen Handwerkeringenieurs feierte. Auch 2020 steht ein Jubiläum
an, aber bis zuletzt deutete nichts darauf hin, dass die
Kulturverwaltung gewillt wäre, sich dessen anzunehmen. Das
Augsburger Monumentalrathaus, bis 1620 von Stadtwerkmeister Elias
Holl erbaut, wird im Jahr 2020 runde 400 Jahre alt. So bezeugen es
die Inschriften über dem Hauptportal des Rathauses am Rathausplatz
und am Nordportal des Goldenen Saals.
Ein
neuer, 96-seitiger Rathausführer aus dem „context verlag Augsburg
| Nürnberg“ weist jetzt jedenfalls schon mal auf dieses Jubiläum
hin. Der Erscheinungstermin des Buchs mit dem Titel „Das
Renaissancerathaus und der Goldene Saal in Augsburg. 1620 – 2020“
ist sehr bewusst gewählt: Es ist seit dem 25. Februar 2020
bundesweit im Buchhandel erhältlich und erinnert damit auch an die
Zerstörung dieses Monumentalbaus in der „Augsburger Bombennacht“
vom 25. auf den 26. Februar 1944. Das Buch thematisiert damit aber
auch die große Leistung der Stadt Augsburg beim Wiederaufbau des
Rathauses sowie bei der zuvor stark umstrittenen Rekonstruktion des
Goldenen Saals und mittlerweile zweier Fürstenzimmer. Außerdem
erinnert der neue Rathausführer daran, dass das für Augsburg
eigentlich doch recht überdimensionierte Rathaus einerseits eine Art
steinernes Geschichtsbuch darstellt, das auf die Gründung der Stadt
durch die Römer, die enge Verbindung der Reichsstadt zum Kaiserhaus
Habsburg, das konfessionelle Zeitalter, den Zweiten Weltkrieg und die
Wiederaufbauzeit verweist. Und andererseits war die Ausstattung
speziell des Goldenen Saals sowie der vier Fürstenzimmer ein
bodentiefer Kotau vor den Habsburgern: Diese Liebedienerei der
Augsburger Ratsherren hatte einen Zweck – nämlich den, künftige
Reichstage in die Stadt zu holen. Der Goldene Saal im Augsburger
Rathaus wurde nicht zuletzt deshalb derart üppig ausgestaltet, weil
er als Reichssaal – also quasi als „Parlamentssitz“ und
Beratungsort der Stände des Heiligen Römischen Reichs deutscher
Nation – konzipiert war. Dieses Kalkül ging freilich nicht auf:
Obwohl im Rathaus die Kaiser Maximilian I., Karl V. und der seit 1619
regierende Ferdinand II. durch Malereien verherrlicht wurden, und
obwohl die Devisen der langen (teils erfundenen) Ahnenreihe des
Erzhauses Habsburg die Holzdecke im Goldenen Saal zieren, entschieden
sich die Habsburger aus machtstrategischen Gründen gegen das
hochmoderne, prachtvoll ausgestattete Augsburger Renaissancerathaus
und für den altväterlichen Saal im gotischen Regensburger Rathaus
als Tagungsort des bis 1806 „immerwährenden“ Reichstags. Nur
einmal noch (1713 und 1714, als in Regensburg die Pest grassierte)
fand doch ein Reichstag in Augsburg statt.
Den
Augsburgern blieb so ein Rathaus, dessen Stellenwert den meisten
Bewohnern dieser Stadt wohl nicht wirklich bewusst ist – und das
bei genauerem Hinsehen noch manche überraschende Entdeckung bietet.
Während etwa die Bronzebüsten der römischen Cäsaren im Unteren
Fletz und in den beiden Treppenhäusern sowie die Kaiserbildnisse an
beiden Längswänden des Goldenen Saals kaum zu übersehen oder
falsch zu interpretieren sind, bewahren zum Beispiel die Motive der
nur wenig beachteten Groteskenmalerei im Goldenen Saal noch so
manches Geheimnis. Zu den mitunter drastischen Darstellungen in
diesen Wandmalereien gehört jener Mann, der dem Betrachter tief
gebückt mit breit gespreizten Beinen den nackten Arsch präsentiert.
Das derbe Späßchen eines Malers? Wohl kaum. Autor Martin Kluger
vermutet, dass diese Szene – anders als etwa andere in diesen
Grotesken – nicht sexuell konnotiert ist, sondern wohl eher ein
Hinweis auf das konfessionelle Zeitalter in dem vom Glaubensstreit
zerrissenen Augsburg sein dürfte.
Der
so aggressiv gezeigte Anus weist in Richtung des Elias-Holl-Platzes,
wo Elias Holls Denkmal steht. Dass die Inschrift auf der
Denkmalspyramide Holl als „Stadtbaumeister“ bezeichnet, zeugt vom
oft eher leidenschaftslosen Umgang der Verwaltung mit Augsburgs
Geschichte: Stadtbaumeister war ein Ehrenamt, das der kleinen Zahl
stolzer Patrizier vorbehalten war. Zu ihnen gehörten bis 1538 noch
nicht mal die Fugger. Holl war solchen Stadtbaumeistern unterstellt.
Im Amt des Stadtwerkmeisters wurde jedoch der Handwerker,
Maurer- und Baumeister Holl zum geistigen Schöpfer des nun 400 Jahre
alten Rathauses.
Martin
Kluger
Das
Renaissancerathaus und der Goldene Saal in Augsburg. 1620 – 2020
context
verlag Augsburg | Nürnberg
ISBN
978-3-946917-21-2
96
Seiten, 127 Fotografien, EUR 6,90, bundesweit im Buchhandel
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