Wer die Wahrheit beschreibt, muss wahr schreiben / Besprechung Puppenkisten-Roman

  


Hettche-Roman „Herzfaden“ trifft nicht ins Herz

Thomas Hettche ist ein Autor, der mitspielt in der ersten deutschen Schriftstellerliga. Das ist deshalb eingangs erwähnenswert, weil sein ab heute im Buchhandel aufliegender Roman „Herzfaden“  auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2020 steht. Man darf gespannt sein, ob dieser Roman über die Augsburger Puppenkiste, der - bildlich ausgedrückt - an den Fäden des weltberühmten Marionettentheaters hängt, gerne gelesen wird oder in einer Kiste auf dem Dachboden verschwindet, denn auch Hettches Geschichte spielt auf dem Dachboden.

Zum Inhalt: Hauptfigur ist Hatü, bekannt als Hannelore Marschall-Oehmichen (geb. 1931 in Osnabrück, gest. 2003 in Augsburg). Die deutsche Puppenschnitzerin gehörte schon 1943 (!) zu den Mitbegründern der Augsburger Puppenkiste, die mit ihrem Vater, dem Schauspieler Walter Oehmichen (1901 - 1977) die Marionetten der „Augsburger Puppenkiste“ auf die hölzernen Beine gestellt und an Fäden gehängt hat.

Thomas Hettche nun, dieser durchaus respektable Erzähler, hat ähnlich wie in seinem Roman „Pfaueninsel“ (Deutscher Buchpreis 2014) in Berlin, für die Augsburger Puppenkiste vor Ort, also in Augsburg recherchiert, um die eine Familiengeschichte mit einer frei erfundenen aus dem Hier und Heute auf dem realen Dachboden der „Puppenkiste“ zu verbandeln. Dorthin nämlich hat sich ein kleines Mädchen nach einer der Vorstellungen verirrt und begegnet - hier verwickeln sich Wirklichkeit und Traum - Kater Mikesch, Zwerg-Nase, Frau Holle, dem Räuber Hotzenplotz, dem kleinen Prinzen, dem Urmel, Seppl und der Großmutter, dem Polizisten Alois Dimpfelmoser und natürlich Jim Knopf. Doch in dieser Verbandelung entstehen tückische Knoten, die nicht so ohne weiteres gelöst werden können.


Das passiert insbesondere dann, wenn sich die plötzlich auf dem Dachboden lebendig gewordene Hatü an Augsburg unter den Nazis und die Nachkriegszeit erinnert. Der Augsburg-Kenner weiß: hier purzeln einige Figuren durcheinander und verknoten sich dabei an falscher Stelle. Das aber kann Autor Thomas Hettche (geb. 1964), der sein Wissen aus den Erzählungen hat, nicht gewollt haben. Insidern fallen die Fehler insbesondere in den familiengeschichtlichen Bezügen auf. Der Erzählfaden hängt vor allem dann durch, wenn es um bekannte Augsburger Familien wie Kroher, Friedmann, Priller (Bauerei Riegele), die Buchhandelsfamilie Seitz oder Institutionen wie das evangelische Anna Barbara von Stettensche Institut und andere Gebäude geht. Hier den Begriff „dichterische Freiheit“ zu strapazieren, greift nicht. Was gewesen ist, ist gewesen. Die Fakten haben zu stimmen! Wer die Wahrheit beschreibt, muss wahr schreiben, zumal sich das alles nachrecherchieren lässt.

Zurück zur gewollten Fiktion in „Herzfaden“. Auch die erschließt sich dem Leser nicht wirklich. Thomas Hettche bedient sich des Perspektivenwechsels, gekennzeichnet durch den zweifarbigen Druck. Doch der Vorhang zur Puppenkistengeschichte hat Löcher und Fragen. Die aber bleiben offen. Warum, wieso, weshalb? 

(Thomas Hettche / Herzfaden, Kiepenheuer & Witsch, 320 S. Zeichnungen: Matthias Beckmann, EUR 24,-- auch als E-Book)


Sybille Schiller

Eingang zur Augsburger Puppenkiste im Ulrichsviertel.

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Thomas Hettche liest am 21. September 2020 um 19.30 Uhr in der Augsburger Stadtbücherei aus "Herzfaden".  Veranstalter ist die Buchhandlung am Obstmarkt.
(Ausverkauft!)

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