Großer Literatur-Abend in der Stadtbücherei: Der Rebellensohn als Geisel


Autorin Olga Grjasnowa und AZ-Redakteur Michael Schreiner bereiten sich auf
die Lesung und das Gespräch vor.


Wir lesen und hören und sehen schreckliches Kriegsgeschehen in der Region Bergkarabach. Ein Konflikt, der dort mit Waffen ausgetragen wird. Die Schriftstellerin Anna Grjasnowa, die von der Augsburger Allgemeinen (AZ) zum Literatur-Abend in die Stadtbücherei eingeladen worden war, konnte dazu einiges erzählen. Sie stammt aus dem Kaukasus. Das Publikum erfuhr, dass die Kämpfe zwischen Aserbaidschan und Armenien um dieses kleine Gebiet auch für sie ziemlich unverständlich sind, und wahrscheinlich mischen angrenzenden Staaten mit wie die Türkei, Russland und Iran.

Olga Grjasnowas aktueller Roman "Der verlorene Sohn" spielt im 19. Jahrhundert und passte hervorragend zum Gesprächsstoff, den Michael Schreiner, Kulturchef der AZ, mit ihr im sympathisch lockeren Plauderton durchaus informativ vorstellte. Das Zuhören war eine Freude.

Olga Grjasnowa liest aus "Der verlorene Sohn".


Natürlich entdeckte Schreiner im historischen Roman über den Sohn eines kaukasischen Nationalhelden, der bei Kämpfen als Verhandlungs-Geisel an den Zaren-Hof in St. Petersburg gebracht wurde, Parallelen zu heutigen Migranten, die immer vor der Frage stehen: können, sollen, müssen wir uns in der neuen Heimat integrieren und wie weit? Im Roman war es der Plan des Zaren, dass der Sohn des kaukasischen "Gotteskriegers" als russlandtreuer Herrscher in den Kaukasus zurückkehrt. Die Autorin lässt wissen, dass in mehreren Geschichten die Figur des Vaters als kaukasischer Nationalheld Imam Schamil thematisiert ist, der im blutigen Kampf gegen die Russen nicht einmal davor zurückschreckte, Kinder umzubringen. Grjasnowa hatte beschlossen, diesen alten Helden-Mythos neu und anders zu erzählen.

Michael Schreiner im Gespräch mit Olga Grjasnowa.


Michael Schreiner präsentierte seine Sonderbeilage in der AZ mit Berichten über Bücher und Autoren zur (nicht öffentlich stattfindenden) Buchmesse in Frankfurt. Selbstverständlich war die AZ-Journal-Beilage ausgelegt. Als Schreiner erfuhr, dass Grjasnowa, diese eher zarte Erscheinung, nur drei Wochen Tanzwissenschaft studiert hatte, formulierte er weniger Fragen zu diesem Komplex.
Nach dem Vortrag der Gast-Autorin stellten die AZ-Kulturredakteure Wolfgang Schütz und Birgit Müller-Bardorff ihre Buch-Favoriten vor. Für Müller-Bardorff gehört dazu "Annes wunderbare Reise nach Green Gables", nacherzählt von Kallie George mit Illustrationen von Abigail Halpin. Laut Bardorff ist darin die rotzopfige, freche Anne wohl das Vorbild für die anarchistische Pippi Langstrumpf. Das andere Kinderbuch, "Super Reich" von Polly Horvath, handelt von dem Jungen Rupert aus einer bettelarmen Familie, der bei in einer superreichen Familie mitspielen, gewinnen und verlieren darf. Sicherlich ein Hinweis auf die heutzutage immer weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich. Allerdings: Ein bisschen langatmig, so empfand es wohl auch das Publikum, war der Diskurs zwischen Schütz und Müller-Bardorff allerdings schon ...

Der Büchertisch ist aufgebaut.


Im darauf folgenden Literarischen Salon, kamen dann der stets aktive Buchhändler Kurt Idrizovic von der Buchhandlung am Obstmarkt, AZ-Kulturredakteurin Stefanie Wirsching und der Bücher-Blogger Marius Müller, Leiter der Stadtbücherei Göggingen, im braven Corona-Abstand, auf das Podest und diskutierten mehr oder weniger heftig über verschiedene Bücher. Warum Moderator Wolfgang Schütz ausgerechnet den Buchhändler als "Faktotum der Augsburger Literatur-Szene" vorstellte, bleibt sein Geheimnis. Schütz versuchte im Günther-Jauch-Stil, also „lockerlässigironisch“ und dazu noch möglichst originell den Abend in den Griff zu bekommen. Naja. Dickes Lob für ihn: Er traute sich, den spannenden Science-Fiction-Roman "Vakuum" anzupreisen, der unglaubliche Abenteuer im Weltraum schildert.

Birgit Müller-Bardorff: AZ-Kultur-Redaktion.


Ein Manko ist bei diesen Literatur-Abenden, dass zu viele AZ-Redakteurinnen und  -Redakteure das Sagen haben. Es wäre sicher ein Gewinn, auch regionale Autoren, Übersetzer, Lektoren oder Verleger oder auch Leserinnen und Leser als Gäste auf die Bühne zu bitten? Das könnte frischen Wind in die „Hier-sind-wir-unter-uns-Runde“ bringen.

Kurt Idrizovic: Buchhandlung am Obstmarkt.


Buchhändler Idrizovic empfahl den neuen Roman „Der letzte Satz“ von Robert Seethaler (in Augsburg bekannt geworden durch seinen Roman "Der Trafikant"). Aber auch „Der letzte Satz“, so Idrizovic, habe ihn sehr glücklich gemacht, weil beim Lesen eine besondere Atmosphäre entstehe. Die Geschichte dreht sich um den Komponisten Gustav Mahler und seine letzte Fahrt auf einem Passagierdampfer nach New York. Wie andere Literatur-Kritiker, so vermisste Stefanie Wirsching detaillierte Information über diesen Komponisten und dessen Musik. Idrizovic entgegnete, dass es ja nicht um Mahler speziell gehe, sondern um die letzten Dinge im Leben. Doch dieses "atmosphärische Lesen" wurde ihm von seinen Mitstreitern mit etwas Spott um die Ohren gehauen.

Stefanie Wirsching: AZ-Kulturredaktion.


Spitze Ohren aber machten alle, wenn Idrizovic in Kritiker-Hochform lospolterte und das Buch "Was Nina wusste" von David Grossman und dabei hochgelobt von Stefanie Wirsching, verbal schredderte. Die Geschichte, die Grossman über Frauen auf einer Gefängnis-Insel erzählt, vermisse er in dem Buch. In seinem Missmut könnte die Ansicht versteckt sein, dass heutzutage zu wenig spannende Romane geschrieben werden, die nicht nur Leserinnen und Leser hochintellektueller Schreibe begeistern können. Wandern diese immer mehr zu den Seriensendern wie Netflix und Amazon Prime und ihren Zombies? Wer sucht schon im ersten Stock der Stadtbücherei nach den aufregenden Comics "The Walking Dead"?

Marius Müller, Stadtteilbücherei Göggingen.


"Mein Buch ist heute Abend das beste", behauptete leicht ironisch Bücherei-Manager Müller, als er "Robinsons Tochter" von Jan Gardam hochhielt. Ein kleines Mädchen liest das Buch "Robinson Crusoe" und erwählt diesen Helden für den Rest ihres Lebens zu ihrem Begleiter in guten wie in schlechten Zeiten. Laut Müller weckt das große Leselust. Ständig zunehmend giftete Wirsching über Bücher, die zum Lesen missionieren wollen. Offensichtlich missfallen ihr Bücher, in die andere Geschichten und den darin agierenden Helden einbezogen sind.

Im Eildurchgang präsentierten die Diskutanten und der Moderator jeweils noch drei Lese-Tipps für den Herbst und Winter.

* Stefanie Wirsching: Ulrike Draesner: Schwitters / Ben Lerner: Die Topeka Schule / Joachim Meyerhoff: Hamster im hinteren Stromgebiet

* Marius Müller: Yoko Ogawas: Insel der verlorenen Erinnerungen / Steph Cha: Brandsätze / Astrid Gabler: Die Fuggerei


* Wolfgang Schütz: Michael-Schreiner: Sehen Gehen / Philip P. Peterson: Vakuum / Han Kang: Weiß

* Kurt Idrizovic: Thomas Hettche: Herzfaden / Mascha Kaleko: Bewölkt, mit leichten Niederschlägen / literatur-kalender (aufbau-verlag) 2021

Wolfgang Schütz: AZ-Kultur-Redaktion.


Kurz vor dem Ende des Abends verließ AZ-Chefredakteur Gregor Peter Schmitz den Ort des Geschehens. Dafür präsentierte er in seinem Newsletter "Sechs um 6" bereits ein paar Worte zur Besprechung seines Kollegen Richard Mayr über das AZ-Literatur-Event. 

Schade, dass zum Schluss der Literatur-Star des Abends, Olga Grjasnowa nicht nochmals erwähnt oder gar verabschiedet wurde. Auch Augsburgs neue Bücherei-Leiterin Tanja Erdmenger musste sich zum  Finale selbst auf die Bühne holen.

Eine gute Idee war es, am Büchertisch den Übersetzer und Lektor Lutz Kliche mit seiner Frau, selbst gelernte Buchhändlerin, beratend tätig sein zu lassen. So ergaben sich beim Bücherkauf muntere Gespräche über die vorgestellten Romane und die Kritiker-Meinungen.

Am Himmel verschwinden in "Vakuum" auf rätselhafte Weise nach und nach Sterne. Wir jedenfalls wollen nicht, dass Literatur-Veranstaltungen wie die erlebte, ebenfalls verschwinden, denn sie bringen wunderbares Licht in das manchmal recht dunkle Kultur-Geschehen zwischen Lech und Wertach.

Norbert Rummel

Tanja Erdmenger: Leiterin der Augsburger Stadtbücherei.
(Fotos: Neue Augsburger Rundschau)



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