Jedes Haus hatte eine Kohlenrutsche

Arbeiterin in der Zwirnerei und Nähfadenfabrik Göggingen.


Augsburgs vergessene Arbeiter-Kolonie

Ganze Heerscharen von Architekten, Soziologiestudenten und Städteplaner befassten sich jahrzehntelang mit dem Augsburger Textilviertel, gelegen zwischen Stadtgraben und westlichen Lechufer. Alte Fabrikschlösser, Glaspaläste, Industriekathedralen und neue Schicki-Micki-Wohnungen wurden umgebaut, aufgeplant und bewertet. Die Beurteilung reicht von gelungen bis gentrifiziert. Mittlerweile, nicht zuletzt durch das bayerische Textilmuseum (TIM), Ideen getragen vom Gründungsdirektor Dr. Richard Loibl, ist das „neue“ Textilviertel ein Wallfahrtsort für innovative Stadterneuerung und Industriegeschichte. Den sozialen Charakter des ehemaligen Arbeits- und Lebensquartiers jedoch muss man suchen. Nur noch rudimentär sind Elemente von ursprünglichen Arbeiterwohnungen, Ledigenheimen, Nahversorgung oder Kindergärten erhalten.

Werkswohnungen: Meisterhäuser für die Saalmeister der Spinnerei.

'Werkswohnungen.

 

Im Schatten des Textilviertels

Intensiver und kompletter ist das industrielle (textile) Leben an anderer Augsburger Stelle präsent. Dort, wo man es am wenigsten vermutet, im Nobelvorort Göggingen der bei den meisten Augsburgern vornehmlich durch Geheimrat Hessing und das Kurhaus bekannt ist.

An der Singold gelegen, weist der raumbeherrschende rote Backsteinbau der ehemaligen ZFNG (Zwirnerei und Nähfadenfabrik, ab 1975 Ackermann Göggingen) den Weg in ein städtebauliches Kleinod.

Zwischen 1873 und 1913 ließ die Nähfadenfabrik Göggingen unmittelbar im Umfeld des großen vom Architekten Jean Keller geplanten Produktionsgebäudes an der heutigen Apprichstraße rund 200 Wohnungen für ihre Arbeiter bauen. Weitere rund 200 Kleinwohnungen kamen unter anderem über Beteiligungsfinanzierungen bei der Gögginger Baugenossenschaft dazu. Dadurch konnte bis zu 20 % der Arbeiter eine Werkswohnung angeboten werden (Augsburger Durchschnitt 9 %).

Die schlichten Fassaden und flachen Satteldächer der Häuser in Zeilenbauweise an der vormals werkseigenen Koloniestraße prägen das auch heute noch erkennbare städtebauliche Konzept. Die Straßenrandbebauung bildete einen kurzen Weg zum Werkstor an der Singold und bot auch von außen der „Obrigkeit“ einen Einblick ins Quartier, ohne dass man sich im Falle eines Streiks mit renitenten Arbeitern auseinandersetzen musste.

Die ZNFG, Blickrichtung von Süden nach Norden.

Das Wahrzeichen von ZNFG.



Soziale Verpflichtung oder kapitalistisches Eigeninteresse?

Die Bauabschnitte wurden Kolonie I, II und III genannt sowie um die Meisterhäuser an der Butzstraße ergänzt. Während von den ehemals neun Häusern der Kolonie I nur noch zwei Gebäude erhalten sind, bieten die sechs Satteldachhäuser der Kolonie II ein erklärendes Bild von unternehmerischen Fürsorge bedingt durch das Ziel zur Leistungssteigerung der Arbeitskraft.

Die Fabriknähe sollte die Arbeitswege zur Fabrik mit den anfangs dreizehnstündigen Arbeitszeiten verkürzen und durch die vergleichsweise günstigen Mieten die Abhängigkeit zum Unternehmen erhöhen. Für den Fabrikherrn erleichterten Werkswohnungen die Mitarbeitergewinnung und förderten den Arbeitsgehorsam, denn bei Arbeitsverstößen war das Wohnrecht verwirkt.

Die 2- bis 4-Zimmer Wohnungen mit maximal 75 qm boten für die damalige Zeit großen Komfort. Belegt wurden die Wohnungen mit bis zu sechs Personen. Die Toilette war drinnen, die trockenen und gut belichteten Räume waren beheizbar und mit einer Wasserzapfstelle versehen. Im ersten Augsburger Wohnungsbericht von 1901 wurden Werkswohnungen als durchwegs „nicht gesundheitsschädlich“ im Gegensatz zu den Zinshäusern in Lechhausen oder Oberhausen bezeichnet.

Produktionsgebäude der ZFNG, Zwirnerei  und Nähfadenfabrik Göggingen.

Architekt war Jean Keller.
 
Obwohl in Göggingen mit dem Augsburger Stadtwappen.


Eigene Lebenswelt

Die Kolonie III zwischen Felsenstein- und Waldstraße mit ihren 3- und 4-geschossigen Häusern ist in Hofform ausgebildet. Im Innenraum waren Waschhaus und Wäschetrockenstangen. Die Spielwiese an Waschtagen zu betreten war „Strengstens Verboten“. In den Treppenhäusern hing an einem Nagel an einer Kordel das Schild „Hausordnung!“ mit Ausrufezeichen als unmissverständliche Aufforderung die Holztreppen zu wachsen, Treppenhausfenster zu putzen und das steinerne Eingangspodest vor den Briefkästen zu wischen. Zwischen den Häusern standen die Holzlegen (Schuppen für Brennholz) und im Keller eines jeden Hauses befand sich eine Kohlenrutsche, mit der die sogenannten Eierkohlen von der Straßenseite vom „Kohlamaah“ durchs Kellerfenster geschüttet wurden.

Die Kolonie war eine Art Arbeiter-Wagenburg und hatte hohe Integrationswirkung, weil man sich im Hof zum „Ratsch“ traf und das besprechen konnte, was in der Fabrik nicht möglich war. Anhand der mehrsprachigen Mitarbeiterzeitung ist bestätigt, dass die ZFNG in den 1960ern Arbeitnehmer aus mindestens sechs Kulturkreisen beschäftigte. So waren die Koloniebewohner nahezu 24 Stunden am Tag unter sich und dies wirkte integrationsfördernd.

Nicht weit von der Kolonie errichtete die ZFNG für das heute so bezeichnete mittlere Management frei stehende Häuser. Darin wohnten die Fabrikmeister, deren Aufgabe auch in der Sicherung der zeitlich und technisch verlustfreien Faden- und Zwirnproduktion bestand.

Werkswohnungen: Kolononie I und II.
 

 

Zitat: „Eine ganz normale Fabrik“

Will man die gesellschaftliche Wertschätzung eines börsengehandelten Unternehmens feststellen, schaut man heute neben dem Kurswert der Aktien auf die Sozialbilanzen. Wie geht das Unternehmen mit den Arbeitnehmern um, wie ist es ökologisch und/oder als Imageträger aufgestellt. Früher fragte man die Mitarbeiter.

Frau Schmid und Frau Merkl, Mutter und Tochter aus Bergheim arbeiteten zusammen mehr als 40 Jahre für die Nähfadenfabrik. Die Mutter als Einlegerin für die Spulen zur Zwirnherstellung im Schichtbetrieb sechs Tage die Woche an zwei Maschinen mit je 10 m Länge. Sie wohnte nicht in der Kolonie und fuhr Sommer wie Winter bei jedem Wetter mit dem Fahrrad („Da gab's noch keine langen Hosen“) täglich von Bergheim in die Fabrik. Ein Bus fuhr erst ab den 1960er-Jahren.

Werbung für Nähgarn aus Göggingen.


Die Tochter, Frau Merkl lernte im Büro und wurde nach der Lehrzeit wie bei der ZFNG für alle Ausgelernten üblich, im Gegensatz zu anderen Augsburger Betrieben, ins Angestelltenverhältnis übernommen. Sie war bis zum Verkauf des Unternehmens 1995 im Auslandsverkauf tätig. Beide ehemaligen Mitarbeiter schätzen das gute Betriebsklima. Die Sozialleistungen reichten von einer bereits 1865(!) gegründeten Betriebskrankenkasse, über eine Kantine in der auch Faschingsbälle gefeiert wurden bis zum Betriebskindergarten. In den Mitarbeiterperiodika findet man Berichte über die jährlichen Betriebsausflüge der „Nähfadenleute“ per gemieteten Sonderzug oder die Förderung des Schachclubs Göggingen. Aufgrund dieser umfangreichen Sozialleistungen einschließlich der Werkswohnungen war die ZFNG mehr als nur eine „normale Fabrik“.

Dieses Bild bietet eine Übersicht über Fabrik und Werkswohnungen.


Opfer des eigenen Erfolgs

Das unternehmerische Ende der Ackermann Göggingen Aktiengesellschaft kam für die Mitarbeiter schnell und unerwartet. Entgegen dem üblichen Dahinsiechen der Augsburger Textilproduzenten in den 1970er-Jahren, lief das Geschäft auch noch 1994 gut. Frau Merkl war deshalb überrascht als 1995 der Fertigungsbetrieb an die Amann Gruppe überging.

Das 1855 von Eusebius Schiffmacher gegründete Unternehmen mit seinen Weltmarkt fähigen Garnprodukten wurde aufgespalten. 1998 kaufte eine Vermögensverwertungsgesellschaft die umfangreichen Immobilien des Fabrikbesitzes. Die Zwirn- und Fadenherstellung besteht auch heute noch, wenn auch nicht mehr überwiegend in Göggingen.

Das unter dem geschickten Miteigentümer Wilhelm Butz (Nicht der MAN Buz) errichtete Zwirnerei-Hochgebäude in Ziegelbauweise, beinhaltet nunmehr spektakuläre Loftwohnungen. Die Kolonie wurde in preiswerte Eigentumswohnungen und private Mietwohnungen umgewandelt.

Ackermann Göggingen ging nie in die Insolvenz, die Bauten sind geblieben und eignen sich gut für einen Spaziergang und ein Eintauchen in die Lebens- und Arbeitswelt der Nähfadenleute.


Edgar Mathe


Wer mehr über die Nähfadenfabrik Göggingen wissen möchte wende sich an Herrn Dr. Münzenrieder von der Geschichtswerkstatt Göggingen.

Über Pläne der Gebäude verfügt das Hauptstaatsarchiv in München, die das ZNFG-Unternehmensarchiv gesichert hat. Dies ist, aus welchen Gründen auch immer, vom derzeitigen Direktor des TIM Dr. Borromäus Murr (beamteter Philosoph - Wikipedia Eintrag) dem Vernehmen nach dem Staatsarchiv überlassen worden.

Dies ist ein Artikel aus der Reihe: Andere Augsburger Orte

Werbung für die Produkte der ZNFG.



Bildquellen: Gögginger Geschichtswerkstatt, Festschrift 100 Jahre, Betriebszeitschrift der ZNFG von 1974, 1981 und Autorenfotos.


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Exkurs: Werkswohnungsbau als ein Modell zur Lösung der gegenwärtigen Wohnungsfrage?


Je nach politischem Couleur wird derzeit von Wohnungsnot oder spezifischem Bedarf an preiswerten Wohnungen gesprochen. Die marktwirtschaftlich orientierten Vertreter der Sozialpolitik CDU/CSU, FDP sehen im verstärkten Bau - höhere Fertigungszahlen als Nachfragezuwachs - von Wohnungen, die Lösung. Die regulativen Vertreter wie Linke, Gewerkschaftler oder Grüne glauben, dass der Markt auf dem sozialen Auge blind ist. Deshalb müssen ordnungspolitische Maßnahmen wie Mietpreisbegrenzung, Sozialwohnungsquoten in B-Plänen, Umwandlungsverbote, Erhaltungssatzungen und andere Regulative bis zur Enteignung für soziale Gerechtigkeit sorgen.

Leider ist bei den bisher inflationär erschienenen Vorschlägen zum verbesserten Wohnungsangebot nirgendwo erklärt worden wie und woran denn die Zielerreichung (preiswerter und ausreichend verfügbarer Wohnraum) gemessen werden soll. Ist der Maßstab die Wohnungszahl pro Haushalt, die Zimmerzahl pro Familienmitglied, die Nähe zur Arbeitsstätte, die sog. Leerstandsreserve, gilt die Definition für Wohnungsmangel je Stadtsprengel, also in Augsburg fehlen preiswerte Wohnungen, im Landkreis gibt es ausreichend usw.?

Ebenso bleibt bisher ungeklärt wie denn der erschwingliche Wohnungsbedarf wirtschaftlich bewertet werden soll. Ist hier der Maßstab der Abstand zur ortsüblichen Vergleichsmiete, die maximale Höhe der staatlichen Bewilligungsmiete oder der für die Miete aufzuwendende Anteil am verfügbaren Haushaltseinkommen?

Außerdem stellt sich die Frage in welchem Umfang preiswerte Wohnungen soziale Infrastruktureinrichtungen zur Folge haben, die nicht über Baurechtszuzahlungen wie bei Luxuswohnungen für die Kommunen vorfinanziert werden. Unabhängig von erschwinglichem Mietpreis, Wohnungsgröße und gesungen Wohnverhältnissen wird seitens der politischen Auguren immer vorhergesagt, die Wohnungssuchenden wollen nur ein günstiges Dach über dem Kopf, dabei wollen alle Menschen eigentlich verträgliche Nachbarschaften. Das Wohnungsangebot in stigmatisierten Quartieren belegt dies.

Wie bei allen gesellschaftlichen Problemen gibt es keine ideologische Eindeutigkeit, sondern nur pragmatische Lösungen die helfen. Alle Ansätze zur Förderung von Baulandbereitstellung, neuen Genossenschaften, Baugemeinschaften haben gemein, sie kosten staatliches Geld.

Warum nicht die alte Idee des Werkswohnungsbaus wiederbeleben, um privates Geld zu generieren? Selbst in der gegenwärtigen Corona bedingten Krisenzeit suchen die Unternehmen Mitarbeiter oder hoffen in der nahen Zukunft solche zu finden. Nutznießer einer Werkswohnungsbaupolitik sind somit auch die Unternehmen. Es gibt viele Möglichkeiten für eine Win-win-Situation. Eigene Bauherrnschaft, Belegungsrechte bei sozial verpflichteten Wohnungsunternehmen wie kirchliche oder kommunale Gesellschaften oder arbeitsvertraglich gebundene verbilligte Darlehen zum Erwerb von Arbeitnehmerwohneigentum sind nur einige Vorschläge.

Dass private Werkswohnungsbauförderung funktioniert, zeigt die jüngere Vergangenheit. Bis 1990 zum Ende der gemeinnützigen Bindungen aufgrund eines Steuerreformgesetzes gab es in der Bundesrepublik (vor der Wiedervereinigung) rund 1.000.000 Werkswohnungen. Zählt man die gewerkschaftlichen rund 200.000 Neue-Heimat-Wohnungen dazu, dann erkennt man schnell welch mietpreisdämpfenden Einfluss neben der Wohnungsbereitstellung diese Verfügungsmasse hat.

Alle diese Wohnungen wurden zur Kapitalschöpfung der Eigentümer in den 1990ern und 2000ern Jahren an zum Teil internationale Investoren veräußert. Arbeitgeber (Unternehmen) und Arbeitnehmervertreter (Gewerkschaften) haben bei diesem gesellschaftlichen Phänomen deshalb eine Bringschuld. Die lässt sich durch die Werkzeuge der Tarifautonomie erfüllen.

Es ist des Schweißes der Edlen wert!



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