Johann Most: Rebell und Revolutionär aus der Jakobervorstadt

Johann Most, Revolutionär, geboren in Augsburg.

 Das Quartier um die Hasengasse (Augsburgs Reeperbahn) in der Jakobervorstadt war noch nie ein bevorzugtes Wohngebiet. Heute zeigen die Bauten den angegrauten Charme der 1950er Jahre. Sozial- und Infrastruktur bedürfen der Erneuerung. Großstädtisches Leben und exzessiver Wohlstand sind nirgends zu erkennen.


Vor 150 Jahren wohnten dort die Kleinhäusler, Schuttler und Hungerleider, kleine Leute also. Dennoch hat diese Gemengelage aus Armut und Selbstbehauptung einen der größten Denker und Journalisten der deutschen Arbeiterbewegung hervorgebracht.

In Augsburg ist Johann Most vergessen.

Weder die sozialdemokratischen Vereine noch die Gewerkschaften führen seinen Namen als Diadem des Kampfes um soziale Gerechtigkeit. Auch die amtliche Erinnerungskultur kann mit dem Namen Most nichts anfangen. Es gibt keine Johann-Most-Gasse, keine Erinnerungstafel weist auf seine Augsburger Jahre hin.

Umso bemerkenswerter ist die im Jahre 2017 erschienene Biografie von Frank Harreck-Haase: "Der Agitator - Das Leben des Hans Most" (Neuauflage 2020, Chemnitz) die sich erstmals ausführlich mit seiner Augsburger Zeit befasst. Der Autor begründet deutlich, dass die revolutionäre Grundhaltung Mosts ihren Ursprung in Augsburg hat.

Geliebte Mutter und verabscheute Gottesfurcht

Johann Most kam Donnerstag, den 5. Februar 1846 „polizeiwidrig“, das heißt: unehelich zur Welt, da seine Eltern Anton und Viktoria noch nicht verheiratet waren. Zu heiraten war damals nach bayerischem Recht nur möglich, wenn man zur Sesshaftigkeit den Existenzsicherungsnachweis durch ausreichendes Einkommen und Vermögen den Augsburger Behörden vorlegte. Da Mosts Vater nur ein einfacher Schreiber war, besaß er keines von beidem. Erst in späteren Jahren, als Vorsteher des Herrman-Friedhofes, entkamen die Mosts der ständigen Armutsbedrohung. Um heiraten zu können, überschrieb der Großvater, Mosts Vater das kleine gemeinsame Haus im „Stöckle“. Heute ist die Gasse nicht mehr zu finden. Geografisch lag sie zwischen der heutigen Rauwolff- und Occostraße in der Jakobervorstadt. Dank diesem Kleinhäuslergut, bekam Mosts Vater die ersehnte Heiratserlaubnis.

Johanns Mutter Viktoria stammte aus München und war Gouvernante (Hauslehrerin). Dadurch verfügte sie, so Biograf Harreck-Haase, über ein gewisses Maß an Bildung. Most selbst beschrieb seine Mutter als gebildete Frau mit freimütiger Denkungsart. Sie erzog den Buben in bescheidenem aber behütetem Umfeld.

Dies änderte sich mit der Einschulung. Mit der beginnenden Industrialisierung wurden Kinder zum Produktionsfaktor. Die schulische Erziehung ging auch in Augsburg von der klerikalen in die städtische Hand über. Öffentliche Schulen mit Klassenstärken von bis zu 150 Schülern (!) erforderten eine züchtigende Hand um die Lerninhalte im Sinne des Staates wie Fleiß, Ordnung, Sauberkeit und Gottesfurcht zu vermitteln. Prügeln mit und ohne Arsenal aus Ruten, Riemen, Rohrstöcken oder Ochsenziemern waren als Leistungsbewertung „normal“.

Dieses Züchtigungsrecht bestand übrigens in Bayern bis 1980.


In dieser Gegend der Jakobervorstadt mit den Schnitzenbaum-Häusern wurde
Johann Most geboren und wuchs er auf.

In diesem Bereich der Jakobervorstadt befand sich einst die Stöcklegasse.
Heute geht hier der Blick zur Wand der Hasengasse.

Most war von den Züchtigungsorgien nicht betroffen, da ihm seine Mutter Unterrichtshilfe gab damit er stets auf Lernhöhe war. Allerdings führte dies auch zum Widerstand gegen den zelotischen (eifernden) Kaplan. Wegen der kirchenkritischen Erziehung gab es sehr bald Zoff um Glauben, Unterordnung und katholische Belehrung. Diese ablehnende Haltung trug Johann Most, auch darauf weist der Bibliograf immer wieder hin, lebenslang wie eine Monstranz vor sich her. Signifikantes Beispiel ist sein Werk „Die Gottespest“ in welcher er sinngemäß Kirche und Religion als Menschenversklaver entlarvt, Zitat: „je mehr der Mensch an der Religion hängt, desto mehr glaubt er. Je mehr er glaubt, desto weniger weiß er. Je weniger er weiß, desto dümmer ist er. Je dümmer er ist, desto beherrschbarer wird er. Religion beherrscht, dabei soll sie befreien“.

Gesichtsentstellung, gehasste Stiefmutter und Schülerstreik

Mit sieben Jahren traf Johann eine ihn für das gesamte Leben entstellende Krankheit. Wegen eines Knochenfraß aufgrund einer verschleppten und falsch behandelten Tuberkulose mussten ihm ca. fünf Zentimeter seines linken Gesichtsknochens entfernt werden. Von nun an galt er als Gezeichneter. Erst im Erwachsenenalter konnte er die Gesichtsverstümmelung durch einen Bart, den er lebenslang trug, verdecken.

Weiteres Unglück ereilte Most mit dem Cholera-Tod seiner Mutter, zweier Schwestern und beider Großeltern. Sein Vater heiratete aus wirtschaftlicher und sozialer Notwendigkeit erneut, damit die beiden überlebenden Kinder unter Obhut waren. Leider, so auch der Bibliograf Harreck-Haase, war diese neue Ehe die Hölle für ihn und seine Schwestern.

Most beschrieb die Stiefmutter als “stockkatholisches Rabenaas und sonstiges dummes Luder unter der wir körperlich und psychisch zu leiden hatten“. Entzug jeder Freizeit um alle Hausarbeiten zu verrichten, kaum zu essen und dadurch zum Stehlen gezwungen prägten diese Zeit. Dennoch führte diese familiäre Situation nicht zu schlechten schulischen Leistungen. Most erreichte die Gewerbeschule (heute Realschule) und war auch dort kein einfacher Schüler. Die Widersprüche und Renitenz gegen die Autoritäten gipfelten im Hinauswurf aus der Schule nach einem von ihm angezettelten Schülerstreik. Ursache war eine aus Mosts Sicht ungerechtfertigte kollektive Klassenstrafarbeit. Der Revoluzzer hatte seinen ersten Auftritt. So ging es in seiner Buchbinderlehre weiter als er sich gegen die ausbeuterischen Verpflichtungen seines Lehrherrn wehrte.

Hier endete das Augsburger Leben von Hans Most, das des Anarchisten und Revolutionärs begann. Das Besondere an der 1000 Seiten umfassenden Biografie von Harreck-Haase sind die jedem Kapitel vorgestellten Erläuterungen des jeweiligen gesellschaftlichen Umfeldes des Landes in dem Most sich aufhielt.

Für Deutschland beschreibt der Biograf die Auseinandersetzungen um die Einordnungen der gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Kräfte im Verhältnis zu den Bismark´schen Sozialistengesetzen. Für Augsburg wird das städtische Ordnungs- und Bildungsrecht beschrieben und das nahezu irrwitzige Streben nach religionsparitätischer Vertretungsmacht des Magistrats erläutert.

In Österreich, wo er als vermeintlicher Hochverräter ausgewiesen wurde, beleuchtet Harreck-Haase die Polizeistaatlichkeit der Habsburger Monarchie. Für England, als Mosts ersten Zufluchtsort aufgrund seiner revolutionären Staatsfeindlichkeit gegen das deutsche Kaiserreich widmet sich der Autor der vorgeblichen Pressefreiheit im Umgang mit Mosts Kampfzeitung „Die Freiheit“.

Auf der Suche nach sozialer Gerechtigkeit

Most glaubte, mit seiner Gesellen-Freisprechung beginnt auch ein freiheitliches und selbstbestimmtes Leben. Schnell musste er feststellen, dass die Industrialisierung noch stärkere Unterdrückungsmechanismen als das merkantile Zeitalter schuf. So schloss er sich den beginnenden sozialdemokratischen Bewegungen zuerst in der Schweiz, dann in Österreich und schließlich in Deutschland an.

Wegen seiner Radikalität in seinen rhetorisch bestechenden Reden zu Umsturz, Revolution und Beseitigung der feudalen oder autokratischen Herrschaftsstrukturen betrachteten ihn alle Machtinhaber als staatsgefährdend. Most bekam auch keine Unterstützung aus den sozialdemokratischen Reihen, selbst Karl Marx entzog ihm die Förderung, weil seine Vorstellung von Werte- und Gesellschaftsveränderung im Anarchismus mündeten. Dies und die publizierten Aufforderungen und Rechtfertigungen zum „Tyrannenmord“ brachten ihn immer wieder ins Gefängnis.

Der revolutionäre Augsburger Anarchist in den USA

Most realisierte, so der Biograf, dass er einen sozialistischen Umsturz in Europa nicht erreichen konnte, da die revolutionäre kritische Masse nicht zündbar war. Zu stark waren die gemäßigten sozialdemokratischen Kräfte nach Aufhebung der Soziallistenverfolgung durch Reichskanzler Bismarcks Demission.

Most hoffte in der starken deutschen Einwanderer-Community, die eben vor Unterdrückung und Ausbeutung nach Amerika ausgewandert waren, das revolutionäre Potenzial zu finden.

Anfangs der 1880er-Jahre konnte Most sowohl als Agitator als auch Redakteur seine Ideen verbreiten. Er war der „shooting star“ in Sachen Anarchismus, Sozialismus und Agitation in der Neuen Welt. Dennoch war die Anhängerschaft nie größer als rund 2000 Arbeiter. Dies entsprach auch der Abonnentenzahl seiner „Freiheit“. Aber auch in den USA verhinderte seine sektiererische und unbeugsame Meinung zu Revolution und Staatsbeseitigung eine bessere Vernetzung.

Arbeiter und Anarchisten

Erst mit zwei von ihm journalistisch behandelten Ereignissen bekam Most die Aufmerksamkeit, die er glaubte haben zu müssen. Im sog. Haymarket Riot (Streik am Heumarkt, Chicago) unterstützte er in seiner Zeitung die streikenden Arbeiter in der Forderung nach dem 8 Stunden Arbeitstag. Am 3. Mai 1886 wurden zwei demonstrierende Arbeiter von der Polizei getötet. Am selben Abend trafen sich etwa 2500 Arbeiter am Haymarket zu einer friedlichen Protestaktion. Die Veranstaltung war kurz vor ihrem Ende als Spezialkräfte der Polizei, die die Arbeiter aufforderten die Versammlung aufzulösen. Als die Demonstrierenden gehen wollten, wurde aus ihren Reihen eine Bombe geworfen, die einen Polizisten tötete und weitere verletzte.

Daraufhin schossen die Spezialkräfte in die Menge. Einige Arbeiter schossen zurück. Im entstehenden Chaos konnte die Polizei nicht mehr erkennen, wo „Freund oder Feind“ stand. Vier Arbeiter und acht Polizisten starben und sechzig wurden verletzt, ursächlich aufgrund polizeieigener Schüsse.

Schnell wurden die Anarchisten als Verdächtige ausgemacht. Verhaftungen vorgenommen und fünf angebliche Täter hingerichtet, obgleich sich bis heute die These vom Agent Provokateur hält, da es eigentlich keinen Grund gab die friedliche Veranstaltung aufzulösen.

Verhaftungen folgten, die Presse schrie nach Rache und Most wurde, obgleich nicht in Chicago, der geistigen Urheberschaft bezichtigt.

Zwar erlaubte die weitreichende Pressefreiheit Most seine radikalen und kruden Meinungen zur Bekämpfung der extrem kapitalistischen „Robber Barons“ wie Vanderbilt, Hill oder Carnegie kund zu tun, doch bedeutete dies auch, dass er von der überwältigenden „Press of a free nation“ als "Engel des Satans" bekämpft wurde.


Most-Biografie, Band 1.

Seine agitatorischen Reden entlarvten den amerikanischen Traum als Trugbild für die Massen. So kam es gerade recht, dass Most, nachdem er in einer Munitionsfabrik arbeitete, ein Buch über „Revolutionäre Kriegswissenschaft“ schrieb. Es war nichts anderes als die Anleitung zum Bombenbau.

So war es für die aufgehetzte amerikanische Öffentlichkeit folgerichtig, Most als Urheber des Haymarket Aufruhrs verurteilen zu lassen. Nach einem Jahr wurde er aus dem Gefängnis Rijkers Island wegen guter Führung entlassen.

Das Attentat auf US Präsident McKinley

Der Gefängnisaufenthalt hat Most nicht gebrochen, obgleich er dort erniedrigt, diskriminiert und psychisch misshandelt wurde. Wieder in Freiheit führte er seine Arbeit als Aufklärer und Agitator fort. Die Einnahmen aus seiner Vortrags- und Journallistentätigkeit reichten gerade, um mit seiner Familie zu überleben. Es gelang Most nie materiell unabhängig zu werden. Nur Dank vieler Förderer und Mäzene konnte er die Kautionszahlungen im Rahmen der zahlreichen Verhaftungen aufbringen.

Sehr zu schaffen machte ihm aber die Isolation innerhalb der internationalen sozialistischen Bewegung. Er wurde mehr und mehr wegen seiner unbeugsamen Haltung in Sachen Anarchismus zum eitlen Sektierer gestempelt. Das lag auch daran, dass er im Gegensatz zu Karl Marx kein schlüssiges Gesellschaftsbild nach einer Revolution entwerfen konnte.

Ihm folgten dadurch auch wirre Geister. Einer davon, der Most nie getroffen hatte, war der gebürtige Pole Leon Czolgosz. Dieser erschoss am 5. September 1901 bei einem öffentlichen Auftritt den Präsidenten der Vereinigten Staaten William McKinley mit der Begründung: „... er ist ein Feind der guten Leute.“

Ritualisiert wurden die organisierten Anarchisten der Tat verdächtigt. Most der Czolgosz nicht kannte, distanzierte sich mit den Worten.“ Czolgosz ist Pole und Polen ist katholisch, da gibt es keine Anarchisten“.

Es nutzte Most nichts. Er wurde der Verschwörung angeklagt, obgleich es keinerlei Beweise für eine Beteiligung tatsächlich oder ideell gab. Allerdings hatte Most eine Woche vor dem Attentat in seiner Zeitung „Die Freiheit“ einen fünfzig Jahre alten Artikel eines Dritten wiedergegeben der endete „Mordet die Mörder. Rettet die Humanität durch Blut und Eisen, Gift und Dynamit!“.

Die Presse griff diesen Artikel auf. Most wurde angezeigt und zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Die Begründung des Gerichts lag in der sogenannten Adaption des Mordaufrufs eines Dritten. Dadurch habe sich Most dieses Verhalten zu eigen gemacht. Er sei somit der "geistige Mörder" des Präsidenten.

Das Ende eines Kämpferherzens

Im April 1903 kam Most aus dem Gefängnis frei. Er war nach wie vor die Leitfigur der amerikanischen anarchistischen Bewegung. Diese verlor nach dem Präsidentenattentat aber massiv an Bedeutung. Einfluss auf staatsbildende Prozesse hatten die Anarchisten ohnehin nie.

Most-Biografie, Band 2.

Most versuchte engagiert seine Idee einer besseren Gesellschaft weiter in den USA zu verbreiten. Da er aber unter ständiger Beobachtung der Polizei stand, war dies nicht erfolgreich. Bedingt durch den Rückgang seiner Zeitungsauflage kamen materielle Sorgen hinzu. So hastete er von Vortrag zu Vortrag. Gesundheitlich angeschlagen kollabierte Johann Most nach einer Erkältung.

Aufgrund einer weiteren Infektion verfiel Most zusehends und starb am 17. März 1906 in Cincinnati/Ohio.

Warum ist diese Biografie lesenswert?

Die zweibändige Biografie über den Augsburger Anarchisten Johannes Most des Autors Frank Harreck-Haase ist lesenswert, denn sie beschreibt die gewaltige konsequente Lebensleistung eines Mannes der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung. Man muss kein Bannerträger der Weltrevolution sein um zu erkennen, dass Johann Most glaubwürdig war. Trotz aller Eitelkeiten und Wirrungen ist es respektabel wie Most für seine Ideale bis zur Selbstzerstörung gekämpft hat. Allen Salonsozialisten heutiger Prägung sei dies mit auf den Weg gegeben.

Dieses zweibändige Werk desAutors Frank zu lesen ist für uns Augsburger ein Muss. Wiedereinmal erfährt man Stadtgeschichte nicht von amtlichen Stellen der Erinnerungskultur, sondern von Außenstehenden. Unverständlich daß der Hühnermörder Salomon Idler in der Jakobervorstadt eine Gedenktafel hat, Johann Most dagegen vergessen ist.


Edgar Mathe


Bilder und Textquellen:

Frank Harreck-Haase, Der Agitator - das Leben des Johann Most, Chemnitz 2020

ISBN 978-3-00-056998-2


Reihe Andere Augsburger Orte, Teil 2


Johann Most, der legendäre Anarchist aus Augsburg, 
auf einer Erinnerungskarte von 1871.



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