Blick auf Kissing. |
Herausforderung des Augsburger und bayerischen Rechtswesens durch einen einfachen Mann
Vom Augsburger Hochablass ist es mit dem Fahrrad nur ein kurzes Stück nach Kissing. Zu Fuß geht man vielleicht eine Stunde entlang des Auwaldes am östlichen Lechufer. Entgegen der langweiligen städtebaulichen Struktur von Neu-Kissing; bietet das alte Dorf nicht nur einen ansehnlichen Ortskern um den Bach Paar, sondern vor allem eine interessante Geschichte. Ortsansässige Bauern, der im 15. Jahrhundert zum Kloster Fürstenfeld gehörenden Gemeinde, ebenso wie der 300 Jahre später dort lebende Bayrischer Hiasl, waren unbeugsame Zeitgenossen.
Martin Langmaier weist im 113. Band, herausgegeben vom Historischen Verein für Schwaben, im Augsburger Wißner-Verlag, anhand von Originaldokumenten nach, wie ein einfacher Mann im Spätmittelalter den Klerus und Adel dermaßen nervte, dass seine rechtliche Klage zum Anliegen von Augsburg, Fürstentum, Kloster Fürstenfeld und dem Femegericht in Westfalen wurde. Durch seine Hartnäckigkeit erreichte der Bauer Ulhart, dass die damals geltende Gerichtsbarkeit um ein Revisionsrecht ergänzt wurde. Sein beharrliches Eintreten führte zu den ersten Ansätzen als einfacher Mann ein Gerichtsurteil anfechten zu können.
Es ist ein spannender Beitrag in diesem Sammelband, handelt er doch von Gerechtigkeit und Rechtssystematik mit der Botschaft „nur nicht aufgeben, auch wenn es - persönlich - nichts nutzt“.
Zu Unrecht enteignet
Ulrich Erhart war Lehensbauer des Klosters Fürstenfeld (Bruck) in Kissing. Wegen unbotmäßigem Verhaltens, Widerstand gegen seines Erachtens ungerechtfertigte Anordnungen, gegenüber dem Kloster wurde ihm, auf Geheiß des Abtes durch den Klosterrichter im Jahr 1455 die Nutzung des Lehens untersagt. Die Ursachen bleiben für den Nicht-Historiker etwas im Dunkeln, da die Originaldokumente in spätmittelalterlicher oder vorneuzeitlicher Sprache verfasst sind und somit schwer lesbar. Autor Langmaier interpretiert das Verhalten von Bauer Erhart als „Rechtsverweigerung und Rechtsbeugung mit Flucht an einen sicheren Ort“, nach Augsburg-Stadtluft macht frei.
Weil gegen den Richterspruch des Klosters kein Rechtsmittel möglich war, verlor Erhart die Lebensgrundlage für sich und seine Familie. In allen dem Hl. Römischen Reich Deutscher Nation angehörigen Gebieten wie Fürstentümer und Reichsstädte gab es nur eine einzügige Gerichtsbarkeit in Eigentumsfragen, die sogenannte „Niedere“die dem Grundherren oblag.
Außer bei der Gerichtssache handelt sich um eine „Blutbannleihe“, Straftaten wie um Leben und Tod oder „besonderen schweren Rechtsverweigerung durch einen Richter“. Die Entscheidung darüber oblag den sogenannten Femegerichten als übergeordnete Gerichte mit Sitz in Westfalen, erst Dortmund später Arnsberg.
Das Femegericht wird angerufen
Diese Gerichte konnten Kraft königlicher/kaiserlicher Befugnis in Fällen der Rechtsverweigerung für den Betroffenen auch außerhalb des eigentlichen Gerichtsbezirks tätig werden. Bauer Erhart schrieb deshalb an das westfälische Femegericht. Dies scheuchte die kurfürstlichen und freistädtischen Rechtskundigen, so Autor Langmaier, derart auf, daß darüber eine mehrjährige Jurisprudenz mit über 30 Dokumenten damals höchstrangiger Rechtsgelehrter entstand. Dieser erstaunliche Aufwand wegen eines gefühlt zu Unrecht behandelten Bauern, dessen Beschwerde gängigerweise im einem Schulterzucken abgehandelt worden wäre.
Historische Abbildung eines Femegerichts. |
Westfalen gegen Bayern
Ein Femegericht konnte auch im Wittelsbacher Herrschaftsbereich ihre „Exekutoren“ anonym zur Rechtsaufklärung senden und theoretisch auch Gewalt anwenden. Das war aber nicht das Problem der Hochwohlgeborenen in Bayern und der Reichsstadt Augsburg. Der bäuerliche Affront lag in der Umgehung der Rechtszuständigkeit. Es durfte nicht sein, dass die Exzellenzen in München von westfälischen Preußen gesagt bekommen wie und wer Recht ausübt. Nichts fürchteten der bayerische Adel und die Kirche mehr als die Untergrabung Ihrer Autorität durch Gebietsfremde. So wurden in umfangreichen Schriftstücken, der Befragung von 40 Zeugen und neun beteiligten Parteien seitens der Wittelsbacher versucht zu belegen, dass das Femegericht in Dortmund/Arnsberg nicht zuständig ist, weil dem Bauer Erhart keine Rechte verweigert wurden. Unter dieser geballten Masse an verfahrensrechtlicher Beweisführung war es kein Wunder, dass Bauer Erhart mit seiner Klage beim Femegericht unterlag.
Ein Kissinger Bauer prägt bayerische Rechtsgeschichte
Dennoch veränderte sich durch die Causa Erhart die bayerische Rechtsprechung. Erstmals, so weist der Autor nach, beeinflusste der „gemeine Mann“ das herrschaftliche Rechtssystem. Schikanen in der unteren Instanz, die zu einer Undurchführbarkeit des Verfahrens führen, müssen durch Revision beseitigt werden können.
Sehr treffend fasst Langmaier zusammen: „Gute und gerechte Rechtsprechung schafft Rechtsautorität, die wiederum bewirkt gesteigertes öffentliches Ansehen. Das sichert die Machtakzeptanz beim Volk“.
Dem Bauern Erhart nutzte dies nichts, denn er wurde wegen seiner Obstruktion gegen die Mächtigen zur Flucht gezwungen und schließlich in Ulm auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
Von diesem Ulrich Erhart, Bauer zu Kissing, erzählt Konstantin Martin Langmaier in der Artikelsammlung des 113. Band der Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben (Wißner Verlag Augsburg, 2021).
Bier-Geschichte: Gleicher Ort, anderer Widerständler
Der 113. Band des Historischen Vereins für Schwaben, umfasst 19 Beiträge zur unbekannten Geschichte Augsburgs und Bayerisch-Schwabens. Sie sind von unterschiedlicher Anziehung aber alle untadelig akademisch. Zufällig oder auch nicht ist die Betrachtung von Wolfgang Wüst zu „Bier und Brauer im Spiegel städtisch-ländlicher Herrschaftskonzepte“ wieder mit Kissing verbunden. Grundsätzlich bemängelt Wüst die hohe Forschungsbeachtung des bayerischen Weines, im Verhältnis zu der wenigen des Bieres.
Dabei hat insbesondere im schwäbisch-bayerischen Land das Bier eine gesellschaftsprägende Bedeutung. Der Autor begründet dies mit den Wirtshäusern als nahezu theologische Einrichtung zur Glückseligkeit mittels „nie versiegendem Bierkrug, ungestörtem Müßiggang und stiller Andacht“. Interessant sind die Ausführungen zum Bier als währungstechnischem Machtsymbol des Landesherrn, etwa mittels Konzessionsvergabe und Wassernutzung. Am erhellendsten zur Bedeutung des Bieres ist das Kapitel „schuldenförderndes Fressen und Sauffen“.
Bier in Bayern: Gesellschaftsprägende Bedeutung. |
Beschiss oder Glück
Mit vielen Beispielen führt Wüst dem Leser vor wie intensiv, nahezu missionarisch die kirchlichen und weltlichen Herrscher oft mittels „Polizey“ (vergeblich) versuchten „die teuflische Paarung des Zutrinkens und der Gotteslästerei“ zu unterbinden. Besonders im Focus lag der Exekutive das „hochverbottene Spielen mit Karten und Würffeln“. Wüst landet mit seinen vergnüglichen Beispielen bei Kissings berühmt-berüchtigten Zeitgenossen und gerechtn Räuber Matthias Klostermair/Klostermeyer alias Bayrischer Hiasl. Der hat wohl beim Kartenspielen (Wattn oder Schafskopf) einem Bauern eine ansehnliche Summe Geld abgenommen. Als die Bäuerin das erfuhr, ist sie zum Amtmann gegangen mit der Bitte dem Klostermair das Geld wieder abzunehmen, weil dieser (frei nach dem Gevatter Tod im Brandner Kaspar) den Bauern „gedupft“ habe. Der Amtmann sandte seinen Büttel zum Hiasl, der konfiszierte das Geld. Darauf suchte der Hiasl den Amtmann auf und nahm ihm das Geld mit Waffengewalt wieder ab, um es dem „rechtmäßigen Besitzer“ (Hiasl) zurückzugeben. Fazit: Bier nährt nicht nur, sondern macht auch verwegen.
Wolfgang Wüst: "Bier und Brauer im Spiegel städtisch-ländlicher Herrschaftskonzepte – Schwaben und Franken im Fokus" (Artikelsammlung des 113. Band der Zeitschrift des historischen Vereins für Schwaben, Wißner Verlag Augsburg, 2021).
Auch „schwere“ Kost im Buch
Das Buch des Wißner-Verlages führt auch inhaltlich nur schwer verdauliche Artikel auf. Sie sind dennoch lesenswert. Das Leiden zweier körperlich behinderter Bürger, in den gnadenlosen Mühlen der „Erbpolizei“ des Dritten Reich, als Erläuterung einer dazugehörigen Ausstellung des Staatsarchivs lässt den Leser erschaudern gehört aber zwingend zur Regionalgeschichte.
Eine interessante Auswahl vielfältiger Themen zur Regionalgeschichte bietet das Buch, setzen in Einzelfällen jedoch erhebliche historische Kenntnisse voraus. Wer sich die Mühe macht, kann an nahe gelegenen Orten auch die räumlichen Bezüge erkennen.
Auch „schwere“ Kost im Buch
Das Buch des Wißner-Verlages führt auch inhaltlich nur schwer verdauliche Artikel auf. Sie sind dennoch lesenswert. Das Leiden zweier körperlich behinderter Bürger, in den gnadenlosen Mühlen der „Erbpolizei“ des Dritten Reich, als Erläuterung einer dazugehörigen Ausstellung des Staatsarchivs lässt den Leser erschaudern gehört aber zwingend zur Regionalgeschichte.
Eine interessante Auswahl vielfältiger Themen zur Regionalgeschichte bietet das Buch, setzen in Einzelfällen jedoch erhebliche historische Kenntnisse voraus. Wer sich die Mühe macht, kann an nahe gelegenen Orten auch die räumlichen Bezüge erkennen.
Edgar Mathe
Bildnachweis: Wißner Verlag, Autorenfotos
Dieser Artikel erscheint in der Reihe Andere Augsburger Orte (Teil4)
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Gisela Drossbach, Vereinschronik 2020
Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben / Band 113 (Hrsg. Historischer Verein für Schwaben) 408 Seiten / Abbildungen: 49, teils in Farbe / Hardcover / Format 23,5 x 16,0 cm / 1. Auflage
Erscheinungsdatum: 10.03.2021 / 25,00 Euro
Erscheinungsdatum: 10.03.2021 / 25,00 Euro
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