Das Ende kam unerwartet
Am 20. September 1995 um 14 Uhr war die Botschaft überbracht. NCR in Dayton/Ohio schloss zum Jahresende das Werk in Augsburg-Kriegshaber. Konsterniert und fassungslos hörten die rund 650 Mitarbeiter im unternehmenseigenen Saalbau in einer Betriebsversammlung die Nachricht: „Zum Jahresende seid ihr euren Job los!“
Nicht einmal der Betriebsrat wurde vorab informiert, der war aber nur kurz sprachlos: „Wir werden uns mit allen rechtlichen Mitteln einsetzen um den Kolleg/innen, wenn wir schon nicht die Werksschließung verhindern können, eine positive Zukunft geben“. Für die Arbeitnehmervertreter begann eine herkulische Aufgabe in einem völlig neuen Rechtsgebiet um Sozialplan und Beschäftigungsgesellschaft gegen einen übermächtigen US-amerikanischen-Arbeitgeber.
Ein guter Anfang
Wer heute von der Ulmer- in die Lippschützstraße einbiegt, steht nach wenigen Metern vor dem ehemaligen Werksgelände der NCR. Bis 1945 waren in den an Wehrmachtsbauten erinnernden Gebäuden, die Michelwerke. Ein Unternehmen das sich in der Elektroindustrie, insbesondere für die nationalsozialistische Rüstungsindustrie einen Namen machte. Nach Kriegsende konfiszierten die US-Amerikaner kurzzeitig die monumentalen Bauten.
Unter anderem wegen der schwierigen geostrategischen Lage in Berlin suchte die National Cash Registers Company (NCR) eine neue Europazentrale. Augsburg, zentral im amerikanischen Besatzungsgebiet gelegen, erhielt unter 60 Bewerbungen den Zuschlag. Kriegshaber wurde zum Produktionsstandort. Die Produktpalette, anfangs mechanische und elektrische Kassen und -systeme, erweiterte sich schnell über die sogenannten Barcodeleser bis zum Super-Microcomputer UNIX. Bis 1956 wurden z.B. 100 000 Registrierkassen verkauft. So erhielt Augsburg in der noch jungen EDV-Branche die Bezeichnung „Stadt der Registrierkassen“.
Zur Zeit der wirtschaftlichen Blüte in den 1960/70er Jahren beschäftigte die NCR in Kriegshaber bis zu 5000 Mitarbeiter. Weithin sichtbares Symbol für eine erfolgreiche Aktiengesellschaft war das zwölf Stockwerke hohe (zwischenzeitlich abgerissene) Verwaltungsgebäude. Einen guten Blick auf das ehemalige NCR-Gelände hat man vom METRO Parkplatz oder der Hangkante an der früheren Flakkaserne. Von dort kann man noch die Grundfläche des im rechten Winkel zum kleineren Verwaltungsgebäude stehenden ehemaligen Hochhauses sehen.
Karl Heinz Schneider. |
Wildwest-Methoden versus deutsches Arbeitsrecht
„Es war ein Schock. Aus dem Nichts heraus sollte eine aus Mitarbeiter- und Gewerkschaftssicht erfolgreiche Betriebsstätte eines Weltunternehmens faktisch über Nacht geschlossen werden, und dies mit Wildwest-Methoden“ meint Karl-Heinz Schneider. Er war zu dieser Zeit Bevollmächtigter der IG Metall in Augsburg/Schwaben und damit so etwas wie Sitting Bull der Sioux, als der die Stämme von Lakota und Cheyenne vereinigte und sie erfolgreich in die Schlacht gegen General Custer führte. Wie am Little Big Horn River war es für die NCR`ler schlicht Glück, daß die Amerikaner strategische Fehler begingen und insbesondere den Betriebsrat unterschätzten.
Weil der nicht vorab informiert, gehört und mit ihm keine Ausgleichsmaßnahmen vereinbart wurden, konnte jeder einzelne Mitarbeiter vor dem Arbeitsgericht gegen die Kündigung aufgrund der Betriebsschließung klagen. Angesichts 650 drohender Prozesse durften sich die deutschen Vorstände an den Verhandlungstisch setzen.
Mit dem Jumbojet zum Streik
Dank eines aufopferungsvoll kämpfenden Betriebsrates, des Wirtschaftsreferates der Stadt Augsburg, des Arbeitsamtes und eines von den Gewerkschaften engagierten Fachanwaltes gelang es mit arbeitsrechtlichem Pfeil und Bogen gegen die großkalibrigen kapitalistischen „45er Peacemaker“ aus Dayton zu bestehen. Dennoch, es dauerte 50 Verhandlungsstunden, nie zuvor und danach, erinnert sich Schneider mussten Betriebsrat und Gewerkschaften mit Arbeitgebern bei Betriebsschließungen so lange verhandeln bis der Rauch der Friedenspfeife aufstieg. Das Ziel in Südbayern erstmals eine Auffanggesellschaft als Qualifizierungseinrichtung für von Arbeitslosigkeit bedrohten Arbeitnehmer zu gründen wurde erreicht. Zwar konnte nicht allen ehemaligen Mitarbeiten so geholfen werden, aber ein Großteil von ihnen kam mittelfristig wieder zu Lohn und Brot.
Stockten `mal die Verhandlungen dann versprach der findige Betriebsrat Entscheidungsbeschleuniger, etwa „man bringe das Geld für die Beschäftigungsgesellschaft selbst auf“ oder „die Arbeitnehmer buchen einen Jumbojet und alle 650 Mitarbeiter fliegen zum Protest nach Dayton, natürlich begleitet durch die Presse“.
Im Fall der NCR resümiert Karl Heinz Schneide waren es drei Elemente die das Desaster für die Arbeitnehmer abmilderten. Erstens, die Hartnäckigkeit des Betriebsrates und der Zusammenhalt der Belegschaft, zweitens das Können von Anwalt und Gewerkschaften und drittens das Glück die Öffentlichkeit auf der Seite zu haben. Geholfen hat auch die Unterstützung des Augsburger Managements die in Dayton glaubhaft machen konnten das Beschäftigungsmodell (PTG) funktioniert.
Ansicht der ehemaligen NCR-Werke. |
Eigentlich eine „tolle“Firma
Für die Mitarbeiter war die NCR, trotz der schmerzhaften Betriebsschließung eine „tolle“ Firma. An zukunftsfähigen Produkten wie Computer, dazu gehöriger Software zu arbeiten war beruflich befriedigend, zumal die NCR gute Löhne bezahlte und außergewöhnliche Sozialleistungen bot. Betriebliche Altersversorgung, Weihnachts- und Urlaubsgeld oder Gleitzeitkonten waren nur einige davon. Besonders innovativ galten die schon in den 1960er Jahren Geschlechts- und Nationalitäten unabhängigen Arbeitsstellenbeschreibungen. Dadurch konnte man allein auf die Qualifikation abstellen. Weibliche Leichtlohngruppen wie in der Textilindustrie gab es deshalb nicht. Die NCR beschäftigte schon frühzeitig Arbeitnehmer aus mehr als 40 Nationen, die Arbeitswelt integrierte.
NCR-Kantine und „Jack the Ripper“
Nicht nur für die Mitarbeiter war die NCR ein bedeutender Bestandteil Kriegshabers. Den großen repräsentativen Versammlungssaal für ca. 1200 Besucher, meist Kantine genannt, stellte das Unternehmen lange Jahre auch für außerbetriebliche Events zur Verfügung (die Stadt Augsburg hatte noch keine Kongresshalle und das Stadttheater war für Schlager- und Popmusik tabu). Insbesondere Musikkonzerte wurden aufgeführt. Die in der späten Wirtschafts-Wunderzeit angesagten Swing- und Big Bands wie Ambros Seelos oder Max Greger unterhielten ebenso wie die „Langhoaraden“ oder Augsburgs Schlager Ikone Roy Black die Augsburger.
Kurze Zeit nach dem Auftritt von Casey Jones and the Governors mit den Hits wie „Don`t ha ha“ oder „Jack the Ripper“ tönte sogar der singende Eiskunstläufer und Frauenschwarm Hans-Jürgen Bäumler über die Bühne.
Die NCR engagierte sich sehr für das Gemeinwohl. Fußball und Tennis wurden gefördert entsprechend dem Motto der Direktoren, -wer sich im Sport durchsetzt, bewährt sich auch im Beruf-. In manchen Jahren halfen Instrumentenkenntnisse bei Einstellungsgesprächen, wenn wieder einmal Musiker im NCR Orchester benötigt wurden. Im botanischen Garten Augsburgs würde der Rosenpavillon nicht stehen hätten ihn nicht die NCR-Vorstände finanziert.
Rosenpavillon. |
Städtepartnerschaft mit Dayton/Ohio
Nach dem 2. Weltkrieg war es für die meisten Nationen nicht erstrebenswert sofort wieder mit dem Holocaust schuldigen „Krauts“ (Deutschen) in gesellschaftlichen Austausch zu gehen. Um so bedeutender ist die auf das Programm „People to People“ von Präsident Eisenhower begründete Partnerschaft zwischen Dayton im Bundesstaat Ohio und Augsburg. Es war Anfang der 1960er-Jahre die erste Städtepartnerschaft Augsburgs. Einen wichtigen Part übernahm die NCR. Zum Beispiel organisierte das Unternehmen den turnusmäßigen Schüleraustausch zwischen Jakob Fugger Gymnasium und Dayton College und unterstützte die Konzertreisen der Schulorchester.
Versöhnliches Ende in Kriegshaber
Mit all dem war Schluss, als beginnend in den 1980er-Jahren die EDV Branche ihre Wertschöpfung zunehmend nach Fernost verlagerte. Die NCR Augsburg musste sich auf ihr Kerngeschäft mit Zahlungsmittellogistik und -organisation konzentrieren und letztlich die EDV Sparte aufgeben.
Zu den Gründen der Werkschließung meinen frühere Mitarbeiter, dass es bis heute unverständlich ist warum die einst modernste europäische Computerfabrik schließen musste. Man habe aber 1995 aus Konzernkreisen gehört: „Die NCR kann auch ohne (die Augsburger) Mitarbeiter Geld verdienen“. Ganz ist es wohl nicht so, denn die NCR gibt es zwar in Kriegshaber nicht mehr aber in Augsburg Lechhausen. Dort beschäftigt sie ca. 300 Angestellte im Servicebereich. Insofern ging es Karl Heinz Schneiders NCRler besser als Sitting Bulls Sioux-Indianer, die trotz des Siegs über General Custer Ihren Lebensmittelpunkt letztlich aufgeben mussten.
Edgar Mathe
Textquellen:
Interview mit Karl Heinz Schneider, 75 Jahre Festschrift NCR, Peter Nardo, die NCR in Augsburg-Kriegshaber
Bildquellen:
NCR Festschrift, Luftbildarchiv, Stadt Augsburg , Autorenaufnahmen
Dieser Artikel erscheint in der Reihe „Andere Augsburger Orte, Teil 7“
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