Die „Winterreise“: ein gar nicht so romantisches Musik-Tanz-Theater

Grandios: der Hirsch (Gonçalo Martins da Silva) mit naturalistischen Bewegungen.



Im Herbst 2020 verfolgten mehr als 5000 Menschen den Live-Stream der Ballett-Premiere „Winterreise“ von zu Hause aus. Nun endlich darf das Stück vor „echtem“ Publikum aufgeführt werden.

Die in spartenübergreifender Zusammenarbeit entstandene Inszenierung und Choreografie von Ballettdirektor Ricardo Fernando, zu dessen Spezialitäten Handlungsballette zählen, übersetzt den romantischen Liederzyklus von Franz Schubert in ein modernes Musik-Tanz-Theater.

Franz Schuberts Liederzyklus »Winterreise« entführt uns in eine kalte Winterlandschaft. Ein einsamer Wanderer (Sänger: Pascal Herington) begibt sich aus Liebeskummer auf die Reise und vergegenwärtigt sich immer wieder sein Leid, aber auch seine Hoffnungen und Träume. Dabei begegnet er allerlei allegorischen Figuren: Frühling, Nacht, Roter und Weißer Tod, Wind und Sturm, aber auch Naturfiguren wie Hirsch, Krähe, Lindenbaum. All diese Figuren werden von den Solotänzern wundervoll und expressiv getanzt; einfach grandios, wie sie die natürlichen Bewegungen nachempfinden, allen voran der Hirsch! Ergänzt werden die Solisten durch schöne, exakt getanzte und synchronisierte Ensemble-Szenen.

Ziellose Wanderer im Winter.


Die romantischen Schubert-Lieder werden in der Bearbeitung von Hans Zender aus dem Jahr 1993 gebrochen und strukturell verändert. So kommt manch abrupter Wechsel zustande, der von den Tänzern mit vollzogen wird. Seit ihrer Entstehung 1827 wühlt die Flucht des Wanderers in die innere wie äußere Emigration ihr Publikum auf, und das will Zender für unsere Zeit nachvollziehen. Heraus kommt eine „komponierte Interpretation“ für Kammerorchester, die mit zahlreichen Sonderinstrumenten wie Akkordeon, Gitarre, Mundharmonika und einem großen Schlagwerk besonders farbenreich klingt. Gerade in den Waldszenen mit Bäumen, Hirsch oder Hunden klingen auch Jagdmotive durch.

Ein Highlight sind die grandiosen, fantasievollen Kostüme (Stephan Stanisic): Die Geliebte des Wanderers hat eine ultralange Schleppe; der Lindenbaum stolziert in Lady Gaga-ähnlichen Plateauschuhen über die Bühne; manch ausladender Kopfputz wird von den Tänzern gemeistert: Das Hirschgeweih, die Äste des Lindenbaums und die Schmetterlinge auf der Blume des Frühlings erzeugen eine surreale Wirkung.

Das triste graue Bühnenbild mit kahlem Baum und zersplitterten Fensterscheiben erinnert an einen aufgelassenen Durchgangsbahnhof, den sich die Natur wieder geholt hat. Wichtige Stichworte aus den Liedern werden mit Licht an die Wand projiziert, und mal wieder gibt es Bühnennebel. Es rieselt viel Kunstschnee, bahnhofsähnlich wird viel mit Koffern über die Bühne gehetzt.

Am Ende treten nochmal alle Traumgesichte des Tänzers auf und umschwirren ihn. Dann erntet die Aufführung begeisterten Applaus.

Ebenso trist wie das Bühnenbild ist, wie die Corona-Maßnahmen jetzt umgesetzt werden (müssen): Nach dem Test vor dem Einlass wird man neu platziert, um die Abstände einzuhalten, die mit den vorab gekauften Platzkarten nicht möglich gewesen wären. So bildet sich am Saaleingang eine lange Schlange, und die Vorstellung beginnt entsprechend später. Gehen Sie also früher hin!

Der Sänger wird bedroht durch eine Hundemeute.


Besprechung; Sabine Sirach
Fotos: Jan-Pieter Fuhr

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