Nehmen Sie Platz - im Orchester! Mussorgsky: Mal düster, mal heiter!


Modest Petrowitsch Mussorgski.



Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“ in einer Virtual Reality-Aufführung am Staatstheater

Die „Bilder einer Ausstellung“ sind ein geläufiges Repertoire-Stück, das viele kennen. Ursprünglich eine Klavier-Komposition von Modest Mussorgsky aus dem Jahr 1874 zu Ehren seines kurz vorher verstorbenen Freundes Viktor Hartmann, wurden sie mehrfach bearbeitet (auch 1971 durch Emerson Lake & Palmer in einer Rock-Version). In Augsburg hat man sich für die Orchesterfassung von Maurice Ravel von 1922 entschieden.

Die einzelnen Sätze beziehen sich auf Skizzen und Gemälde, die Mussorgski in der Gedächtnis-Ausstellung gesehen hatte. Das Programm der Komposition zielt gleichzeitig auf eine Stärkung der russischen Kultur gegenüber der Verwestlichung ab. Die völlig unterschiedlichen „Bilder“ sind mal düster, mal heiter und greifen verschiedene Themen auf, von tanzenden Küken oder spielenden Kindern bis zur bösen Hexe Baba Jaga der russischen Sagenwelt und am Ende dem monumentalen Heldentor von Kiew. Durch die „Promenaden“ genannten Zwischenspiele werden sie zusammengehalten – Sinnbild für die räumliche Bewegung beim Spaziergang durch die Ausstellung.

Im März 2021, während des kompletten Lockdowns, nahmen die Augsburger Philharmoniker unter der Leitung ihres Generalmusikdirektors Domonkos Héja eine Virtual Reality-Produktion auf, die am Sonntag dreimal im Martini-Park zu sehen war. Durch das VR-Konzerterlebnis bekommt man nun nochmal einen ganz neuen Zugang zu der bekannten Musik.

Und was für ein Erlebnis das ist! Mit der VR-Brille nimmt man mitten im Orchester Platz. Vier mögliche Positionen stehen zur Auswahl; man kann auch hin- und herwechseln (leider stoppt dann die Musik für ein paar Sekunden). Beispielsweise steht man neben dem Dirigenten mit Blick auf die Streicher, oder bei den Harfen; für die „Bilder einer Ausstellung“ ist jedoch die beste Position die Nr. 3, inmitten der Bläser und in der Nähe des Schlagwerks: Diese beiden Gruppen sind in dem Stück sehr dominant und deswegen auch besonders interessant. Durch die Nähe zu den Musikern kann man sie sehr genau beobachten, das Atemholen eines Bläsers sehen, oder den Umgang der Musiker mit ihren Instrumenten verfolgen (wussten Sie von der zapfenförmigen Abstellmöglichkeit für Klarinetten? Dass es ein Tuch für die Pauke gibt, um den Nachhall zu dämpfen?). Man kann den Musikern über die Schulter aufs Notenblatt schauen; sogar den Blicken der Musiker zum Dirigenten folgen. So ergeben sich auch ganz neue Hörerlebnisse (die Rezensentin konnte sich dafür begeistern, das Glockenspiel am Ende des „Großen Tors von Kiew“, dem letzten Satz des Stücks, einmal ganz genau zu sehen und damit akustisch zu identifizieren). Man entdeckt sogar noch nie aus der Nähe gesehene Instrumente, zum Beispiel das Kontrafagott.

Die Aufnahmetechnik erlaubt es, dass man durch Kopfdrehungen nicht nur die optische, sondern auch die akustische Position ändert – mal hört man das linke Instrument intensiver, mal das rechte. Die Aufnahmen wurden mit kugelförmigen Kameras und Mikrofonen gemacht, um 360° zu ermöglichen.

Im Anschluss an die VR-Aufführung standen Musiker und Produzenten für Erläuterungen und Fragen zur Verfügung. Dabei kam heraus, dass die Aufnahme auch für die Musiker eine ganz neue Erfahrung war, da sie unter permanenter Beobachtung standen (und am besten ein „Pokerface“ machen sollten) – dementsprechend konzentriert und fein ziseliert ist auch die Musik in der Aufnahme. Die Bilder einer Ausstellung wurden speziell für diese Aufnahme einstudiert und an drei Tagen in der komplett leergeräumten Gersthofer Stadthalle aufgenommen. Die Musiker brauchten wegen der zwischen ihnen stehenden Kameras und wegen Corona sehr viel Abstand zueinander. Dadurch gab es sogar leichte Zeitverzögerung vom Dirigenten zu den hinten sitzenden Musikern. Anschließend war eine aufwändige Post-Production nötig, um alle Aufnahmen von Mikrofonen und Kameras in Einklang zu bringen. Optisch ergeben sich durch die Fischaugen-Perspektive allerdings dennoch leichte Verzerrungen in einzelnen Blickwinkeln.

Das kleine Publikum war von dem intensiven Erlebnis völlig begeistert – alle (auch die Musiker) waren sich jedoch einig, dass die Virtual Reality ein Live-Konzert zwar bereichern, aber nicht ersetzen kann.


Besprechung: Sabine Sirach

Diese kugelförmigen Kameras wurden mitten im Orchester platziert.
Foto: Jan-Pieter Fuhr

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