Ist Gretchen noch zeitgemäß?


Zuschreibungen einmal wörtlich: eine kleine theaterpädagogische Übung für die Teilnehmer
an der Werkstatt.




Eine Theater-Werkstatt zur Oper „Faust – Margarethe“


Am 29. Januar 2022 hat im Augsburger Staatstheater die Oper „Faust – Margarethe“ von Charles Gounod Premiere. Dazu waren in einer „Werkstatt“ im martini-Park Hintergründe zu erfahren und Einblicke in die Probenarbeit zu bekommen.

Wie Sophie Walz, die leitende Musik-Dramaturgin, erläuterte, wäre die Inszenierung eigentlich schon 10 Tage vor dem ersten Lockdown zur Premiere gekommen, musste dann aber wegen der großen Zahl an Menschen auf der Bühne (Chor, Orchester) doch verschoben werden.

Die 1856 uraufgeführte Oper “Faust“ ist ein komplexes Werk mit vielen verschiedenen Aspekten. Sie ist einer der größten Erfolge der Opern-Literatur und weltweit sehr beliebt; unter anderem wurde mit ihr die Metropolitan Opera in New York eröffnet. Auch in Filmen kommt die Oper häufig vor, beispielsweise im Phantom der Oper.

Die Deutschen hatten mit der Oper zunächst gefremdelt; die Aneignung des als urdeutsch empfundenen Stoffes durch (ausgerechnet!) einen Franzosen wurde abgelehnt. Erst mit dem neuen Titel „Margarethe“ wurde sie hierzulande aufführbar gemacht. Das Staatstheater hat sich nun diplomatisch für den Doppeltitel „Faust – Margarethe“ entschieden.

Zu Anfang der Arbeit an der Oper fragte man sich in Augsburg, ob man die Geschichte vom Gretchen, die in der Oper im Zentrum steht, heute überhaupt noch erzählen kann. Da wird Gretchen (passiv) verführt und geschwängert, muss abtreiben und wird als Kindsmörderin ins Gefängnis geworfen. Gounod´s Faust ist gegenüber dem Goetheschen nicht der Philosoph und Gelehrte, sondern ein (anfangs lebensüberdrüssiger) Dandy und Don Juan. Er wünscht sich nicht Welterkenntnis, sondern Erotik, Jugend und Energie.

 Sophie Walz, leitende Musikdramaturgin, und (rechts) Imme Heiligendorff, Theaterpädagogin.


Im Zentrum der Inszenierung von Jochen Biganzoli steht folgerichtig bei jeder Szene die Frage, wer wen wie sieht und wem was – wörtlich – zugeschrieben wird. (In der Werkstatt gab es eine kurze theaterpädagogische Übung von Imme Heiligendorff zur „Zuschreibung“.) Am Ende steht im 19. Jahrhundert für die Frau meist die „Erlösung“ durch Tod oder Wahnsinn, beides ein Ausweg aus dem Korsett der Zuschreibungen. Die Augsburger Inszenierung versucht in jeder Szene, die Zuschreibung offen zu legen; besonders deutlich wird dies in der wechselnden Kostümierung Gretchens in der Tanzszene des zweiten Akts. Gretchen wird von allen begrapscht, nur Faust nähert sich ihr zärtlich, weil er sie anders sieht.

Die Romantik der Oper wird durch schwarz-weiße Videoszenen in die heutige Zeit transponiert – und dadurch glaubhaft: Gretchen und Faust begegnen sich in der Stadt (Augsburger Straßenszenen), Gretchens Sehnsucht wird in Szenen bei ihr zuhause deutlich. Das Bühnengeschehen in sehr reduzierter Umgebung bringt hingegen eher ironische Sachlichkeit in das Geschehen. So entsteht eine interessante Spannung zwischen altertümlichem Stoff und Moderne; Kitsch und Moralisierung bleiben außen vor.

Man darf gespannt sein, wie die Augsburger das dramatische Ende darstellen.


Bericht und Fotos: Sabine Sirach

 

Kommentare