Von Feierseuchen und Darmreinigern

Lastwagenunfall 1927 in Schwaben.


Das amtliche „Tagebuch“ des Grafen von Spreti


Heinrich Graf von Spreti war von 1923 bis 1933 Regierungspräsident von Schwaben (und Neuburg). In dieser Eigenschaft hatte er alle zwei Wochen an das bayerische Innenministerium Bericht zu erstatten, was denn im Regierungsbezirk so passiert ist.


Wenn ein Beamter Berichte verfasst, ist der erste Gedanke des Lesers, da führt die Langeweile die Feder. Dem ist hier nicht so, denn zu viel war in den vermeintlichen goldenen Zwanzigerjahren in Augsburg und Schwaben los. Das hat sich sicher auch Karl Filser, Bearbeiter des vierten Bandes der Lageberichte gedacht. 


Kommunisten und Nazis


Schwerpunkt der Bobachtungen von Spreti sind nach dem Abflauen der politischen Auseinandersetzungen und Unruhen um Räterepublik 1920 oder Hitlerputsch, in 1923 die Entwicklungen der extremen Parteien am rechten und linken Rand der schwäbischen Gesellschaft. Deshalb beginnen alle Reports mit der allgemeinen politischen Lage und der Wiedergabe von Volksstimmung und -meinung. Von wilden Schlägereien in der Oberhauser Gaststätte Elysium, der Zentrale der Augsburger Kommunisten, wird ebenso kritisch berichtet, wie vom Auftritt Hitlers vor 2500 Zuhörern in der Sängerhalle im Augsburger Stadtgarten. Man kann zwischen den Zeilen schon lesend, dass die erstarkenden Linken und Rechten bereits in den späten Zwanzigern das Ende der Weimarer Republik als die Demokratie ohne Demokraten eingeläutet haben. Die bürgerlichen Parteien und die Sozialdemokratie, so schreibt Spreti, waren zu träge oder uninteressiert an einer starken Republik.


Mit der Mistgabel gegen Steuerbeamte, Landratsamt gesprengt


Nach Spretis Auffassung, für einen Beamten damals mutig geäußert, liegen die Ursachen des beginnenden demokratischen Niedergangs in der sozialen und wirtschaftlichen Benachteiligung der „verbitterten Besitzlosen, Arbeitern und Bauern“. Selbst die Gewerbeverbände schlossen sich dem Missfallen gegenüber Berlin und München an. Sie klagten alle über trotz sich verbesserter wirtschaftlicher Verhältnissen zu hohe Steuern, eine fette Beamtenschaft und Überbürokratisierung. Da wurde schon mal als Widerstandstandstat mit der Mistgabel eine Steuerpfändung abgewehrt. In Füssen beispielsweise versteckten unzufriedene kommunistische Arbeiter hinter der Christusstatue in der Stadtkirche den Sprengstoff, mit dem sie dann das Bezirksamt (Landratsamt) halbwegs in die Luft sprengten. Spreti beobachte auch, dass „das Volk mündig geworden war, denn nun kamen auch schon Pfarrersköchinnen in die engere Bürgermeisterwahl“.


Bier zu teuer, Milchankaufspreis zu niedrig


Das zweite große Berichtsthema waren die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Wenig volkswirtschaftliches Wachstum traf auf steigende Preise und Inflation und so auf eine fortschreitende Verarmung der schwäbischen Bürger. Streiks und Rumoren gegen die Biersteuererhöhungen, Unmut über zu niedrige Milchpreise, Blumenkohl-Konkurrenz aus Italien und billige Stoffe aus dem Elsass verärgerten, so Spreti die Schwaben.

Feuerspritzen im Zeughaus.




Tanz auf dem Vulkan


Obgleich der Regierungspräsident feststellte, dass die Bevölkerung eigentlich nichts zum Konsumieren hat, fanden in ganz Schwaben Feste und Feiern statt. Auf Feuerwehrjubiläen, Sängerfesten, nationalen oder kirchlichen Gedenken verprassten nach Auffassung Spretis die ansonsten sparsamen Schwaben ihr (nicht vorhandenes) Vermögen. „Da kosten von Jungfrauen zu stiftende Fahnenbänder 100 Mark, man ist elegant gekleidet und gönnt sich was. Das kostet viel Geld und solange man Feste feiert, kann man nicht arbeiten. Wenn man das ausspräche, würde man mit Steinen beworfen“.

Insbesondere die Faschingsfeiern fanden amtliche Missbilligung. Nicht nur wegen der anscheinend exzessiven Konsumption von Alkohol, sondern weil sie etwa beim Metzgerball in Kempten zu „ernsten Ausschreitungen“ führten. Dort musste eine 30 Mann starke Reichswehrtruppe mit aufgepflanztem Bajonett und scharfer Munition einen Eifersuchts-Tumult zwischen Metzgern und Soldaten schlichen.

Besonders das arme Augsburg war zentraler Ort der Dekadenz. Die „Faschingslustbarkeiten“ werden vor allem von Leuten genutzt, meinte Spreti, die eigentlich kein Geld dafür haben. Das Presseamt der Stadt wendete sich sogar mit einem Aufruf an die Bevölkerung, die „Tollheit und Ausgelassenheit“ nicht auf die Spitze zu treiben und an das eine Siebtel der Augsburger zu denken, die in „bitterer Not“ leben. Auch die Innere Mission, Hilfsorgan der evangelischen Kirche, schrieb einen Brandbrief gegen das Faschingstreiben. Kein Wunder, dass der redliche Regierungspräsident von „Feierseuchen“ sprach.


Chaos auf den Straßen, Luft und Schiene


Spreti widmete sein Augenmerk auch auf die fortschreitende Technisierung. So verzehnfachte sich der Automobilbestand im Berichtszeitraum in Augsburg. Gleichzeitig erhöhte die bayerische Staatsregierung die Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften von 15km/h auf 30km/h (!). Auf tödliche Unfälle in Stadt und ländlichen Gebieten „dabei wurden dem Fahrer von hinten der Schädel gebrochen und die Zungenspitze abgeschnitten“ weist der Chronist hin. Zur Verkehrsüberwachung empfahl Spreti Stoppuhren für die Gendarmerie zu beschaffen damit „mit Strafeinschreitung“ gegen die Raser vorgegangen werden kann. Zu allem Überfluss verursachte auch noch die ADAC Alpenfahrt Verdruss. Bei der Durchfahrt der Teilnehmer wurden in Königsbrunn bis zu 105km/h gemessen.


Nicht nur die häufigen Zugunglücke, das schwerste in Dinkelscherben mit 16 Toten, als ein beschleunigter Personenzug (heute Regionalexpress) auf einen Güterzug fuhr, beschäftigten Spreti, sondern auch der erste Flugzeugabsturz in Augsburg. Bei einem Probeflug zur Inbetriebnahme des Personenflugverkehrs von Berlin nach Augsburg löste sich von den Tragflächen die Bespannung, das Flugzeug trudelte und stürzte senkrecht aus 600m Höhe direkt über dem Hochfeld ab. Dem Piloten war es nicht gelungen sich mittels Fallschirm zu retten.

Sängerhalle im Augsburger Stadtkarten, Hitlers Auftrittsort.



Die Mazdaznan Bewegung


Der Regierungspräsident beschrieb alles, was ihm wichtig erschien. Von den immerwährenden Brandstiftungen über Morde an Mägden, Polizeibeamten, ertrinkenden Mädchen oder Viehdiebstählen mit kurioser Auswirkung. „Einem Bauern in Mittelschwaben wurde eine Sau gestohlen und durch eine Kranke ersetzt, die dann auch sobald verendete“ bis zum Erwerb der Flächen für den Augsburger Stadtmarkt oder den Bestrebungen, die schwäbische Bezirkshauptstadt an den Rhein-Main-Donau Kanal anzubinden, führte Spreti Protokoll.

Selbst sektiererische religiöse Vereinigungen weckten sein Interesse. Das erfolglose Bestreben nach einer katholischen Donaumonarchie oder gotteslästerliche Äußerungen der Freikirchen nahm er genau unter die Lupe.

Sehr seltsam, das merkt man an der Wortwahl, erschien ihm die Mazdaznan Gruppe in Kaufbeuren. Ohne genau zu begründen, glaubte Spreti, hier könnte sich etwas Umstürzlerisches entwickeln. Die Bewegung speist sich aus einem Mix von religiösen Motiven, gegründet von einem Deutschen in Persien und steht der Zarathustra- und der Arieridee nahe. Die Sekte verweist auf die Besonderheit der arischen Rasse. Sehr suspekt, vermutlich damals aufgrund von Nachfragen bei der Metzger-Innung war ihm ihr vegetarischer Lebensstil (Darmreinigung) den er in seinen Berichten zitierte.


Kaleidoskop der guten Jahre in der Weimarer Republik


Für wen ist Buch von Interesse? Es sind die kleinteiligen Ereignisse der Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts, das es lesenswert machen. Die große Politik ist längst von den Historikern aufgearbeitet. Aber der Blick ins Gemüt des Schwabenlands, voran Augsburg, ist nicht nur lehrreich, sondern unterhaltsam. In klarer Sprache werden bäuerliche Sturköpfe, ideologisch verblendete Aufwiegler, tragische Ereignisse und zum Schmunzeln anregende Tatsachen, beschrieben von einem unerwartet engagierten Beamten.

Ja, es ist ein Arbeitsbuch.Man muss sich die Themen heraussuchen. Nicht alles ist lesensnotwendig (Honigernte, Frühjahrssaat oder gescheiterte Fürstenenteignung). Doch sind die Berichte so klar gegliedert, dass man sich sofort zurechtfindet. Karl Filser, als Bearbeiter liefert allumfassend in den Fußnoten den wissenschaftlichen aber auch feuilletonistischen Nachweis einer großen Recherchegenauigkeit.

Man wird im hoffentlich noch kommenden fünften Band der Berichte schwäbischer Regierungspräsidenten erkennen, wie trotz aller Beschwerlichkeit dieser Jahre auch in Schwaben „gute“ waren. Insbesondere vor dem Hintergrund aktueller politischer und gesellschaftlicher Ereignisse ist es eine bildende Lektüre.


Besprechung: Edgar Mathe



Berichte schwäbischer Regierungspräsidenten aus den Jahren 1924 bis 1928
Bearbeiter und Herausgeber: Karl Filser

Wißner Verlag Augsburg /418 Seiten, Hardcover / Format 24,8 x 18,0 cm
1. Auflage / Erscheinungsdatum: 09.11.2021

Bilder, Autor, Stadtarchiv Augsburg

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