Fantasievoll: Robert fliegt davon! |
Die Junk-Oper »Shockheaded Peter« im martini-Park
Der Struwwelpeter des Nervenarztes Heinrich Hoffmann von 1844 ist nicht nur ein Kinderbuch-Klassiker, sondern auch Erziehungsratgeber, Paradebeispiel einer schwarzen Pädagogik. Die englische Band The Tiger Lillies machte 1998 daraus ein neues Genre, die „Junk Opera“, und betonte das anarchische Potential der ungezogenen Kinder.
Hausregisseur David Ortmann inszeniert die Junk-Oper am Staatstheater Augsburg als bunt-groteske Fernsehshow. Die altbekannten Figuren sind Kandidaten in der Freakshow und werden von einem Showmaster buchstäblich vorgeführt. Was wäre, wenn uns Paulinchen, Zappel-Philipp oder die böhzen Buben heute auf der Straße begegnen würden?
Schnipp schnapp, Daumen ab! |
Die Show „Shock the Peter” mit Moderator Peter (abgebrüht und publikumsgeil: Julius Kuhn) veralbert auf quietschbunter Glitzerbühne (Bühne & Videodesign: Oliver Kostecka) heutige Fernsehformate. Zu Anfang animiert der Showmaster das Publikum zum Mitmachen und Üben der Applausstärke. Die Logik und Optik der TV-Show wird mit Home Stories, Live-Projektionen und Logo-Animationen dargestellt.
In der psychologisierenden Manier von Casting-Shows werden die Kandidaten als Menschen mit „Herausforderungen“ vorgestellt, teilweise als traumatisiert (Paulinchen) oder psychisch geschädigt (Zappel-Philipp) präsentiert. Die gemeinen Aufgaben, die sie in der Show zu bewältigen haben, sollen ihnen helfen, „an sich zu arbeiten“. Sie haben Träume, die sie mittels der Siegprämie verwirklichen wollen: Paulinchens Lieblingselement ist nicht das Feuer, sondern Wasser – sie möchte Rettungsschwimmerin werden. Der Angeber Friederich sucht eine blonde Braut, und Robert will einfach nur davonfliegen.
Nur nicht zappeln, Philipp! |
Der Angeber Friederich wird vom Hund gebissen. |
Die bekannten Figuren werden modern adaptiert, so sind die Schwarzen Buben hier neonazistische Böhze Buben – die in einer Video-Sequenz gezeigt werden, wie sie Passanten in der Augsburger Fußgängerzone angreifen! (Nebenbei: eine elegante Art, wie die Inszenierung den Rassismus des Originals umschifft.) Den Augsburger Schauspielern Florian Gerteis, Marina Lötschert, Patrick Rupar, Elif Esmen und Gerald Fiedler, die alle mehrere Rollen spielen, ist mit ihrer überbordenden Spiel- und Sangesfreude der Spaß an der Inszenierung anzumerken.
Jedes Lied hat seinen eigenen Charakter, Kompliment an die junge Augsburger Band Mount Adige (mit dem Münchner Knalle Wall an der Tuba) für ihre Wandlungsfähigkeit! So singt Paulinchen einen Anklang an die „Sonne“ von Rammstein, Gerald Fiedler spielt Saxofon, „Suppi“ Kaspar rappt mitreißend.
Ganz besonders hervorzuheben sind Kostüme und Maske von Aylin Kaip. Flächige Kleider mit offenen Nähten in den Originalfarben adaptieren die Zeichnungen von Heinrich Hoffmann kongenial. Alles völlig übertrieben und wunderbar witzig.
Elektrisiert: der Struwwelpeter! |
Böhze Buben treiben sich auch in der Fußgängerzone herum! |
Die bunte Fernsehshow-Bühne für „Shock the Peter“! |
Bei dieser musikalischen Live-Show ist Unterhaltung vorprogrammiert – bis einem das Lachen möglicherweise im Hals stecken bleibt. Denn das Ganze ist eine blutige Angelegenheit: Am Ende der Show sind (fast) alle tot: verbrannt, verhungert, verblutet, erschossen. Die Leichen werden in einer Falltür entsorgt. Am Ende darf man aber versöhnlich mit Roberts Fantasie davonfliegen.
Das Premierenpublikum jubelte und so gab es eine Zugabe mit einer Revue der schmissigen Lieder. Beim Hinausgehen waren auf vielen Gesichtern immer noch leuchtende Augen und Schmunzeln zu sehen!
Text: Sabine Sirach
Fotos: Jan-Pieter Fuhr
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