ALL DAS SCHÖNE im Leben: Wie trotzt man der Depression?

Sarah Hieber tanzt – und wirbelt auch sonst über die Bühne.



Sarah Hieber in einem mitreißenden Stück im Augsburger Sensemble Theater


Das Stück „ALL DAS SCHÖNE“ des Briten Duncan Macmillan ist ein 70-minütiger Monolog über Selbstmord und Depressionen. Was – in diesen schlimmen Zeiten besonders – bedrückend klingt, entpuppt sich als schwungvolle Beinahe-Komödie. In der intelligenten Inszenierung von Sebastian Seidel und der pfiffigen Ausstattung von Birgit Linner brilliert Sarah Hieber in einer Rolle, die sonst mit einem männlichen Schauspieler besetzt wird (Dresden, Siegen, Celle, Aachen).

Die Geschichte dreht sich um ein Kind, das - zum ersten Mal mit sieben Jahren – Selbstmordversuche seiner manisch-depressiven Mutter verkraften muss. Es reagiert darauf, indem es anfängt, eine lange Liste zu schreiben mit all dem, was schön ist im Leben:

1. Eiscreme

2. Wasserschlachten

3. Länger aufbleiben dürfen als sonst und fernsehen

…und kommt am Ende des Stücks bis zu einer Million!

Die Mutter, für die die Liste auch gedacht ist, liest sie zwar, kommentiert sie aber nicht. Auch der Vater ist unfähig zur Kommunikation mit dem verunsicherten Kind.

Der zweite Selbstmordversuch ereignet sich während der Pubertät des Mädchens, das nun mit Wut reagiert – aber auch seine Liste wiederentdeckt und weiter schreibt.

999. Sonnenschein

Die junge Frau geht zur Uni und studiert Literatur. In der Bibliothek lernt sie den Mitstudenten Uli kennen (entzückend: Sarah Hiebers Flirt über das Buch hinweg!); es entwickelt sich eine Beziehung, obwohl Uli ihre Liste und damit ihre Geschichte mit Depressionen entdeckt. Ab der Nummer 1.000 schreibt er die Liste weiter. Schließlich heiraten die beiden, aber auch ihre Ehe wird von der Depression und den ständigen Gedanken an den Selbstmord überschattet und scheitert. Und die junge Frau kämpft weiter…

Zwischendurch zitiert das Stück psychologische Studien, in denen die Folgen von Selbstmord(versuchen) auf das soziale Umfeld untersucht wurden. So haben Kinder von Selbstmördern häufig Schuldgefühle (in Macmillans Stück: auch die Liste des Kindes kann die Mutter nicht retten). Die als „Werther-Effekt“ bekannte soziale Ansteckung bewirkt, dass durch die mediale Darstellung von berühmten Selbstmördern – eben Werther im 18. Jahrhundert oder im 20. Marilyn Monroe und Kurt Cobain – viele weitere Selbstmorde geschehen. Dagegen hat sich die Medienwirtschaft in ihrem Pressekodex die Richtlinien über den verantwortungsvollen Umgang der Medien mit Selbstmord gegeben: „Keine technischen Einzelheiten schildern, … Selbstmorde nicht als erfolgreich beschreiben, … keine Abschiedsbriefe veröffentlichen“ und weitere Punkte (die nur selten eingehalten werden).

In der Inszenierung gibt es SEHR viele Klebezettel!



Temporeich verwandelt

In der Inszenierung des Sensemble bezieht Sarah Hieber das Publikum aktiv mit ein. Die Zuschauer bekommen von ihr beim Eintreten Kärtchen mit Zahlen und den dazugehörigen Listeneinträgen in die Hand gedrückt (die man vorlesen soll, wenn die Zahl aufgerufen wird) – und den Hinweis, dass sie eventuell im Stück mitspielen würden…was dann tatsächlich passiert: Der Vater, die Mutter, die Therapeutin, der Ehemann, sie alle werden von Menschen aus dem Publikum dargestellt (ihre Rollen sanft von der Schauspielerin vorgegeben – also keine Angst!). Was laut Auskunft des Regisseurs in den bisherigen Aufführungen bestens geklappt hat.

Zur Bühnenausstattung, die sonst nur aus alten Theatersesseln und vielen, vielen Klebezetteln besteht, gehört auch eine Live-Videokamera, die die mitspielenden Zuschauer aufnimmt und das Spiel der Hauptperson groß projiziert. Und was man da sieht, ist bewundernswert! Temporeich verwandelt sich Sarah Hieber vom Kind in Vater oder Mutter, in die wütende Jugendliche, die verliebte Studentin, sie tanzt, singt, schreit, wiegt ein sterbendes Hündchen, und als Wirbelwind klebt sie überall Post-It-Zettel in den Bühnenraum.

Das Publikum spielt mit: in dem interaktiven Stück werden Vater, Mutter, Ehemann und weitere Personen von ZuschauerInnen dargestellt.



Was der Autor mit seinem Stück aussagen möchte: »Du bist nicht allein, du bist nicht seltsam, du wirst es durchstehen, und du musst einfach festhalten. Das ist eine sehr uncoole, unmodische Art etwas zu sagen, aber ich meine es wirklich so.« (Interview von Catherine Love mit Duncan Macmillan für The Guardian)

Am Ende steht die Nummer 999.999: Eine Aufgabe abschließen. Für alle, die mit dem Gedanken an Selbstmord spielen, gibt es nur den einen Rat: „Tu´s nicht!“


Text und Fotos: Sabine Sirach

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