Live im Abenteuerland der Bücher

Letzte Abstimmungen der beiden Buchplauderer Michael Schreiner und Kurt Idrizovic
vor dem Beginn in der Stadtbücherei Augsburg.



Michael Schreiner und Kurt Idrizovic in ihrem Lese-Zeichen-Dialog


Einen unterhaltsamen Abendspaziergang durchs Abenteuerland der Bücher gab es, wie jedes Vierteljahr, in der Stadtbücherei. Der Buchhändler Kurt Idrizovic und der Kulturjournalist Michael Schreiner plauderten über Bücher, ihre Lektüren und den aktuellen Buchmarkt. Das Publikum konnte in der Stadtbücherei live dabei sein – oder zu Hause online, im eigenen Lesesessel lümmelnd.

Den Anfang machte Idrizovic mit zwei Empfehlungen zum Ukraine-Russland-Krieg. Er empfahl die „Reisen in die Ukraine und nach Russland“ von Joseph Roth, eine Zusammenstellung von Artikeln, Briefen und Reportagen aus den 1920er-Jahren. Darin deute sich bereits ein sprachlich-kultureller Konflikt an, der auch zu den Grundlagen der jetzigen Aggression beiträgt. Der zweite Hinweis bezog sich – klar, schließlich gibt es wenige in Augsburg, die Brecht so gut kennen! – auf Bertolt Brechts „Hauspostille“, darin findet sich die „Ballade von Mazeppa“, dem ukrainischen Volkshelden.

Schreiner und Idrizovic spekulierten über die Gründe für die Absage der Leipziger Buchmesse, die nun schon das dritte Mal ausgefallen ist. Idrizovic ist aber zuversichtlich: „Vielleicht kann unsere kulturelle Wunderwaffe Claudia Roth ja ihren Einfluss für nächstes Jahr geltend machen!“

Idrizovic legte bei seinen Lektüren einen Schwerpunkt auf die Türkei. Er verwies auf Emine Sevgi Özdamar, die beim Brechtfestival ihren autobiographischen Roman „Ein von Schatten begrenzter Raum“ vorstellte – Interessantes über ihre Zeit an den Theatern in Berlin und Paris nach ihrer Emigration in den 1970er-Jahren, und Humorvoll-Menschliches aus dem Alltag findet sich da. Orhan Pamuk hat einen neuen Roman, „Die Nächte der Pest“, vorgelegt – eine Geschichte über eine (fiktive) Insel, auf der 1905 die Pest ausbricht. Pamuk hatte den Pest-Roman vor der Corona-Pandemie begonnen und wurde dann plötzlich sehr aktuell mit dem Thema. Ein großer Erzähler, den Idrizovic mit Umberto Eco und Ivo Andric vergleicht. „Dschinns“ von Fatma Aydemir ist der dritte türkische Roman, den er empfahl; eine Familiengeschichte um einen nach Istanbul zurückgekehrten Gastarbeiter.

Schreiners Lektüren sind international. Esther Kinskys Roman „Rombo“ erzählt von den Erdbeben in Friaul von 1976, und was sie mit sieben Bewohnern eines Bergdorfs machen. Schreiner lobt die „Sprachkünstlerin“, deren wortreiche Naturbeschreibungen der Frage nachgehen, wie sich Natur auf die Menschen auswirkt. Beeindruckt war Schreiner von „Billy Summers“, dem neuesten Stephen King. Ein Roman über einen Serienkiller, aber eigentlich über das Schreiben und die heutige amerikanische Gesellschaft. Monika Helfer, die am 11. März zum Literarischen Salon in die Stadtbücherei Augsburg kommt, hat ihren dritten Roman „Löwenherz“ vorgelegt, auch hier finden sich großartig geschriebene Reflexionen über das Schreiben, meint Schreiner. Und dann: „Das müssen Sie lesen!“, nämlich Yasmina Rezas neues Buch, „Serge“, ein Roman über eine französisch-jüdische Familie, die einen Ausflug nach Auschwitz macht. Schreiner ist beeindruckt über den ganz anderen Umgang der französischen Autorin mit dem Thema, als wir es in Deutschland kennen.

Leo Schenk und sein Equipment für den Live-Stream.



Beide haben den neuen Roman „Vernichten“ von Michel Houellebecq gelesen, eine Geschichte, die Politik, Familiengeheimnis, Geheimdienst, Zahnschmerzen und Reflexionen über das Älterwerden und den Tod umfasst.

Nach den Lektüren machten die beiden mit lockerem Geplauder rum um Bücher weiter; erzählten die Geschichte des achtjährigen Amerikaners, der ein Kinderbuch malte und es in seine Bücherei stellte – wo es ein unerwarteter Erfolg wurde: Das Buch war dauernd ausgeliehen und hatte eine Warteliste von 60 Leuten! Idrizovic machte sich ein Vergnügen daraus, die Plauderei immer wieder mit Zitaten von Harry Rowohlt (aus dem Band „Und tschüs: Nicht weggeschmissene Briefe III“) zu unterbrechen. Rowohlt erinnerte sich immer noch gut daran, dass bei einer Lesung in Augsburg (im Biergarten) um 23 Uhr die Polizei kam, um Rowohlt endlich das Wort abzuschneiden – nach vier Stunden!

Etwas ratlos waren beide über die Idee einer Bundestagspoetin – „aber schaden würde es nicht“. Dagegen könne man sich Frankreich zum Vorbild nehmen, wo es für alle unter 18 einen Kulturgutschein von 300 € gibt.

Einen Trend machen sie bei den Jahreszahlenbüchern aus, besonders aus den 20er-30er Jahren, da gibt es Florian Illies mit der Zeit von 1929 bis 1939, Uwe Wittstock beschreibt den „Februar 33“, Volker Weidermann „Ostende 1936“, es gibt „1919 – das Jahr der Frauen“ und „1929 – Frauen im Jahr Babylon“ und so weiter. Das Buchjournal listet aber auch für jedes Jahr von 1968 bis 2023 einen Jahreszahlentitel auf.

Mit seinem Buch über Bastian Schweinsteiger handelte sich Martin Suter einen Komplett-Verriss ein, schon das Titelbild sei so dumm wie dann der Inhalt. Suter habe sich mit diesem Buch selber beschädigt. Was für ein Gegensatz zu dem Buch von Wittstock über 1933, wo die Todesangst der Intellektuellen beschrieben wird – Parallelen zu heute seien überdeutlich, finden unsere Buch-Plauderer. Die dann aufhörten, bevor die Polizei kommen musste.

Wer sich diese Lesezeichen-Veranstaltung vom 1 März 2022 in der Stadtbücherei Augsburg anschauen will, kann das hier tun.

Der nächste Lesezeichen-Dialog-Termin mit Michael Schreine rund Kurt Idrizovic ist am 1. Juni 2022 um 19:30 Uhr in der Stadtbücherei.


Text und Fotos: Sabine Sirach

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