Mitten ins Leben

Lebhafter Austausch unter Theaterleuten bei der Gesprächsrunde mit Publikum, von links nach rechts: Schauspieler Vedran Komericki, Schauspielerin und Autorengattin Mladena Gavran, Übersetzer Tihomir Gloawatzky, Dramatiker und Autor Miro Gavran, Sensemble-Leiterin Anne Schuester.


Große Literatur zu entdecken:
Das 13. Internationale Miro Gavran-Festival im Sensemble


Miro Gavran ist der meistgespielte, zeitgenössische kroatische Dramatiker und zugleich der einzige europäische Autor, dessen Stücken ein eigenes, regelmäßig stattfindendes Festival außerhalb seines Heimatlandes gewidmet ist. Seine Theaterstücke feierten über 300 Premieren weltweit, wurden in ca. 40 Sprachen übersetzt und erhielten zahlreiche Auszeichnungen. Nun lud das Augsburger Sensemble Theater bereits das zweite Mal zum Internationalen Gavran-Festival ein, das jährlich an verschiedenen Orten stattfindet. Es gab Aufführungen mit Bühnen aus Augsburg, München, Zagreb und Bukarest. Am 18. und 19. März bekam das Publikum einen breiten Einblick in Miro Gavrans Schaffen und konnte den Bühnen- und Buch-Autor in verschiedenen Gesprächsrunden kennenlernen.


Den Anfang machte „KREONS ANTIGONE“ von Miro Gavran. Das Stück wurde in einer szenischen Lesung mit Kerstin Becke und Heiko Dietz aufgeführt – was die Intensität des Kammerspiels noch verstärkte. Die Antigone-Sage, basierend auf Sophokles und Anouilh, erzählt Gavran ganz neu: Bei ihm ist Antigone völlig abhängig von Kreon (daher der Titel des Stücks), der ihr und der gesamten Königsfamilie seinen Willen aufzwingt. Aus Angst vor Verrat will er ein Exempel statuieren, und mit besonderer Raffinesse führt er die Regie bei dem Drama, das er selbst erdacht hat und in dem alle Familienmitglieder nur passive Mitspieler sind. Antigone hat er die Rolle der sich selbst opfernden, liebenden und gegen die Staatsgewalt revoltierenden „Verkörperung der göttlichen Gesetze“ zugedacht. Durch ihren Tod will er demonstrieren, dass er sogar über diesen Gesetzen steht – doch Antigone spielt nicht mit!

In mehreren überraschenden Wendungen arbeitet Gavran Aspekte der Sage heraus, die bei Sophokles nur angedeutet sind. Und er fügt eine zweite Ebene ein: das Philosophieren über Drama und Schauspiel-Rollen. Antigone muss einen Text auswendig lernen, den sie öffentlich deklamieren soll – ihre Weigerung, mitzuspielen, wird zur Selbstermächtigung: Sie will Kreons Inszenierung durch ihren Selbstmord zunichtemachen, hat aber nicht damit gerechnet, dass er ihre öffentliche Rolle bereits anderweitig, mit ihrer Zwillingsschwester, besetzt hat.

Was dem Stück erschreckende Aktualität verleiht, ist die dritte Ebene: das Nachdenken über autoritäre Macht. Kreon äußert da Sätze, die klingen, als kämen sie aus Putins Mund. Er entledigt sich seiner Feinde, und Antigones Prophezeiung, das Volk werde sich erheben wegen des Gemetzels, wird nicht eintreffen…

Den Abend des ersten Festivaltages leitete Jürgen Enninger, Kulturreferent der Stadt Augsburg, mit seinem Grußwort ein. Er begrüßte die anwesenden kroatischen Konsuln aus Frankfurt und München, überbrachte Grüße von OB Eva Weber und freute sich, dass nach der langen Corona-Durststrecke „endlich wieder Theater“ stattfinden könne. Die Stadt sei stolz auf das Sensemble als engagierte Vertreter der freien Theaterszene und lobte, es treffe immer mitten ins Leben, mit Relevantem und auch Skurrilem. Das Gavran-Festival sei kein „Glamour-Festival“; das Besondere sei vielmehr, dass Gavrans Stücke immer den Nerv des Publikums treffen, weil sie in der „Sprache der Menschlichkeit“ geschrieben sind.

In klassisch-schöner Sprache geschrieben ist das Gedicht „Der Schauspieler“ von Miro Gavran, das anschließend sein Übersetzer Tihomir Glowatzky vortrug – eine Klage des alternden Schauspielers über die Unechtheit seiner Rollen, die er dem Publikum zuliebe spielte: „Ich, der überzeugend gelogen…“

Der Gavran-Übersetzer Tihomir Glowatzky liest Miro Gavrans Gedicht „Der Schauspieler“.


In dem Zwei-Personen-Stück „KAFFEEPAUSE”, aufgeführt vom Gavran Theater Zagreb, kam Gavrans komödiantische Seite zum Vorschein. Über 20 Jahre hinweg treffen sich Mutter und Sohn immer wieder in Mutters Mittagspause im Café und diskutieren über die Wechselfälle ihrer beiden Lebenswege: Ihr Mann/sein Vater hat die Familie wegen einer Jüngeren verlassen; die zweite Freundin des Sohnes wird schwanger und lässt ihn dann mit dem Kind sitzen. Die Mutter will den Sohn verkuppeln, heiratet selber wieder, und der Sohn gründet eine Familie mit Kindern - „zu sechst“. Am Ende holt beide die Vergangenheit ein, doch dann hat der Sohn eine Idee…

Mutter (Mladena Gavran) und Sohn (Vedran Komericki) bei der „KAFFEEPAUSE“.


Trotz der Verfremdung durch die deutsche Übertitelung der kroatischen Aufführung ging das Publikum in jeder Szene mit – Lacher an den komischsten Stellen verrieten, dass man die stereotypischen Auseinandersetzungen wohl aus dem eigenen Leben kennt! Die Darstellung durch Mladena Gavran und Vedran Komerički reizte selbst dann zum Lachen, wenn die Übertitelungs-Technik kurzzeitig ausfiel.


In der anschließenden Gesprächsrunde mit Miro Gavran und dem Team aus Zagreb erfuhr man so manche Hintergründe über die Entstehung der beiden Stücke des heutigen Tages. Die „Kaffeepause“ schrieb Gavran während der ersten Corona-Welle im Lockdown (der ihn sehr produktiv werden ließ); die Antigone entstand bereits 1983, wird aber immer noch oft gespielt. Gavran merkt an, dass das typisch sei: das Dramatische lebt länger als das Komische, „Humor hält sich nur 20 Jahre“. Die Stücke-Trilogie aus „Bier“, „Kaffeepause“ und „Eiscreme“ dreht sich immer um die Generationenkonflikte unterschiedlicher Konstellationen.


Am 19. März, dem zweiten Festivaltag, gab es in einer Buchpräsentation die deutsche Neuerscheinung des Buchs „Ein Drama und vier Komödien“ zu feiern – zwei der Festival-Stücke sind auch darin enthalten (so kann man auch die Antigone nachlesen und mit Sophokles und Anouilh vergleichen).


Anschließend führte das Sensemble Theater das Gavran-Stück „TSCHECHOW SAGT TOLSTOJ LEBEWOHL“ als szenische Lesung auf. Der alternde Dichterfürst Tolstoj lädt mit seiner Frau Sofia den viel jüngeren Tschechow mit dessen Frau Olga auf sein Landgut ein und schlägt ihm vor, er solle – wie Eckermann bei Goethe – die gemeinsamen Gespräche für ein Buch aufzeichnen. Schnell merkt Tschechow aber, dass er nur den Ghostwriter spielen darf und ihm Tolstoi die Texte direkt in die Feder diktiert. (Die beiden Schriftsteller sind sich übrigens tatsächlich begegnet, auf Tolstois Landgut und später auf der Krim. Gavran hat das zwiespältige Verhältnis Tschechows zu Tolstoi sehr plastisch eingefangen.)

Da ist noch alles in Ordnung: die Ehepaare Tschechow und Tolstoi.

Tolstoi macht Tschechow Vorschriften.

Das Ehepaar Tolstoi giftet sich an.

Frau Tolstoi macht Herrn Tschechow an.


Die Charaktere der beiden Dichter und ihrer Gattinnen sind scharf gezeichnet: der genialische Lew Tolstoi (ganz und gar überheblich: Johannes Haag), die ihres Mannes überdrüssige Sofia Tolstoi (so schön fies: Kerstin Becke), der zurückhaltende Tschechow (Olaf Ude, herrlich eingeschüchtert vom Ehepaar Tolstoi) und seine realistische Frau Olga (Helga Schuster, eingesprungen für Daniela Nering, mit höchst amüsanter Mimik ihrem schlappen Ehemann gegenüber). Sofia Tolstoi macht sich an Anton Tschechow heran, Tolstoi an Olga – beide wollen sich jeweils am Ehepartner rächen, scheitern aber an der Treue der Tschechows zueinander. Das Stück ist Satire im besten Sinn: amüsant, aber das Lachen bleibt einem immer wieder im Halse stecken!


Am Abend gab es das Stück „ALLES ÜBER FRAUEN“ als Gastspiel vom Teatru Arte dell’Anima, Bukarest, in rumänischer Sprache mit englischen Übertiteln.

In dieser bisher am häufigsten gespielten Komödie mit fünfzig Premieren und Übersetzungen in 14 Sprachen rund um die Welt werden in fünf unterschiedlichen Erzählsträngen unterhaltsame, nachdenklich stimmende und überraschende Geschichten erzählt. So geht es in der einen Geschichte um zwei Frauen, die denselben Mann geliebt haben, in der zweiten um drei Sekretärinnen, die zusammen in einem Büro arbeiten. Die dritte Geschichte zeigt das Problem auf, wenn die Freundschaft zweier Frauen durch das Auftauchen einer dritten gefährdet wird…

Das Stück war mit der Übertitelung schwer zu verfolgen, aber die Schauspielerinnen waren auch so ein Erlebnis. Die Hälfte der Zuschauer konnte offensichtlich rumänisch, was am spontanen Lachen zu erkennen war.  

Ein dickes Dankeschön an die Teams vom Sensemble und aus Zagreb für dieses Festival, bei dem man einen großen europäischen Schriftsteller in seinen verschiedenen Facetten kennenlernen konnte!


Text und Fotos: Sabine Sirach

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