Geschichtliche Hintergründe zum Ukraine-Krieg:
Joseph Roths „Reisen in die Ukraine und nach Russland“ in den Zwanziger Jahren
Wer sich für die geschichtlichen Hintergründe des Ukraine-Krieges interessiert, kann in einem Büchlein mit Reportagen und Briefen aus den 1920er-Jahren fündig werden. Joseph Roths „Reisen in die Ukraine und nach Russland“ ist eine Sammlung kurzer Texte, die Jan Bürger 2015 zusammengestellt hat und die jetzt in einer hübschen Ausgabe, herausgegeben von Julia Finkernagel, bei der Büchergilde Gutenberg neu erschienen ist.
In unglaublich scheinender Aktualität und Hellsichtigkeit leitet Joseph Roth aus seinen subjektiven Beobachtungen größere Zusammenhänge ab. Mit großer Sympathie schildert er das Vielvölkergemisch in der Nach-k.u.k.-Gesellschaft in Lemberg, der einzigen Großstadt in seiner Heimat Ost-Galizien (Roth kam aus Brody, 90 km nordöstlich von Lemberg gelegen). In seinem Artikel von 1928 für die Frankfurter Zeitung lernt man, dass das Volk der Ukrainer über viele Nationalstaaten verteilt lebte. Sein scharfes Urteil wird in diesem Zitat klar: "In diesem Europa, in dem die möglichst große Selbstständigkeit der Nationen das oberste Prinzip der Friedensschlüsse, Gebietsteilungen und Staatengründungen war, hätte es den europäischen und amerikanischen Kennern der Geografie nicht passieren dürfen, dass ein großes Volk von 30 Millionen in mehrere nationale Minderheiten zerschlagen, in verschiedenen Staaten weiterlebe. Zwingt man sich … zu jener naiven Anschauung, dass die Nationen in Europa in säuberlich voneinander getrennten Gebieten leben, … so ist nicht einzusehen, weshalb man ein großes Volk einfach vergaß und weshalb man das Gebiet, auf dem es lebt, nicht zusammenzuschließen versuchte, sondern neuerlich aufteilte.“
Zu Roths Zeit war die Ukraine ein Spielball vorwiegend zwischen Polen und der Sowjetunion. Was für zwiespältige Gefühle ihre politisch unsichere Situation in den Ukrainern hervorrief, wird in seinem Überblick deutlich: „Als der Zar noch regierte, neigten Teile der österreichischen Ukrainer zum … Russentum. Heute, da die Sowjets regieren und die ukrainische Nation anerkennen, neigen Teile der polnischen Ukrainer zum Kommunismus. Darüber täuscht die politische Parteiengruppierung der Ukrainer in Polen auch nicht hinweg.“
Wozu diese Gemengelage im Ersten Weltkrieg führte, wird in einem Text aus der Serie „Reise in Galizien“ von 1924 deutlich. Völlig sachlich beschreibt Roth einen alptraumartigen Zug von Kriegs-Invaliden, die einen der Ihren in Lemberg zu Grabe tragen. Grausige Verstümmelungen, fein säuberlich in Doppelreihen und nach ihren Schicksalen sortiert, die man sich gar nicht bildlich vorstellen will.
Und dann geht es nach Russland. Bereits in seinen Texten von 1926 sieht Roth ganz klar, wohin die Ideologie des neuen Sowjetstaates führt. Er, der zunächst ein überzeugter Bolschewik war, prangert die Missstände an, die schon wenige Jahre nach der Revolution sichtbar wurden. Er legt aber nicht nur den Finger in die Wunde der kapitalismusartigen Industrialisierung, der Zensur, Kollektivierung der Landwirtschaft und atheistischen Religionspolitik, sondern hinterfragt all seine Beobachtungen immer wieder: Woher kommen all diese Widersprüche, warum geht es den Menschen so schlecht, weshalb leiden gerade die Bevölkerungsgruppen, denen der Kommunismus doch helfen will, Arbeiter und Bauern?
Der letzte Text hebt in seiner satirischen Leichtigkeit die Schwere dieser Überlegungen fast wieder auf: „Der Liebe Gott in Russland“ hat nichts mehr zu tun, „geht spazieren, unerkannt, ein alter Herr …“ – seine Rolle hat die Partei übernommen. Anklänge an die Allmacht der heutigen russischen Führung hallen nach.
Joseph Roths „Reisen in die Ukraine und nach Russland“ in den Zwanziger Jahren
Wer sich für die geschichtlichen Hintergründe des Ukraine-Krieges interessiert, kann in einem Büchlein mit Reportagen und Briefen aus den 1920er-Jahren fündig werden. Joseph Roths „Reisen in die Ukraine und nach Russland“ ist eine Sammlung kurzer Texte, die Jan Bürger 2015 zusammengestellt hat und die jetzt in einer hübschen Ausgabe, herausgegeben von Julia Finkernagel, bei der Büchergilde Gutenberg neu erschienen ist.
In unglaublich scheinender Aktualität und Hellsichtigkeit leitet Joseph Roth aus seinen subjektiven Beobachtungen größere Zusammenhänge ab. Mit großer Sympathie schildert er das Vielvölkergemisch in der Nach-k.u.k.-Gesellschaft in Lemberg, der einzigen Großstadt in seiner Heimat Ost-Galizien (Roth kam aus Brody, 90 km nordöstlich von Lemberg gelegen). In seinem Artikel von 1928 für die Frankfurter Zeitung lernt man, dass das Volk der Ukrainer über viele Nationalstaaten verteilt lebte. Sein scharfes Urteil wird in diesem Zitat klar: "In diesem Europa, in dem die möglichst große Selbstständigkeit der Nationen das oberste Prinzip der Friedensschlüsse, Gebietsteilungen und Staatengründungen war, hätte es den europäischen und amerikanischen Kennern der Geografie nicht passieren dürfen, dass ein großes Volk von 30 Millionen in mehrere nationale Minderheiten zerschlagen, in verschiedenen Staaten weiterlebe. Zwingt man sich … zu jener naiven Anschauung, dass die Nationen in Europa in säuberlich voneinander getrennten Gebieten leben, … so ist nicht einzusehen, weshalb man ein großes Volk einfach vergaß und weshalb man das Gebiet, auf dem es lebt, nicht zusammenzuschließen versuchte, sondern neuerlich aufteilte.“
Zu Roths Zeit war die Ukraine ein Spielball vorwiegend zwischen Polen und der Sowjetunion. Was für zwiespältige Gefühle ihre politisch unsichere Situation in den Ukrainern hervorrief, wird in seinem Überblick deutlich: „Als der Zar noch regierte, neigten Teile der österreichischen Ukrainer zum … Russentum. Heute, da die Sowjets regieren und die ukrainische Nation anerkennen, neigen Teile der polnischen Ukrainer zum Kommunismus. Darüber täuscht die politische Parteiengruppierung der Ukrainer in Polen auch nicht hinweg.“
Wozu diese Gemengelage im Ersten Weltkrieg führte, wird in einem Text aus der Serie „Reise in Galizien“ von 1924 deutlich. Völlig sachlich beschreibt Roth einen alptraumartigen Zug von Kriegs-Invaliden, die einen der Ihren in Lemberg zu Grabe tragen. Grausige Verstümmelungen, fein säuberlich in Doppelreihen und nach ihren Schicksalen sortiert, die man sich gar nicht bildlich vorstellen will.
Und dann geht es nach Russland. Bereits in seinen Texten von 1926 sieht Roth ganz klar, wohin die Ideologie des neuen Sowjetstaates führt. Er, der zunächst ein überzeugter Bolschewik war, prangert die Missstände an, die schon wenige Jahre nach der Revolution sichtbar wurden. Er legt aber nicht nur den Finger in die Wunde der kapitalismusartigen Industrialisierung, der Zensur, Kollektivierung der Landwirtschaft und atheistischen Religionspolitik, sondern hinterfragt all seine Beobachtungen immer wieder: Woher kommen all diese Widersprüche, warum geht es den Menschen so schlecht, weshalb leiden gerade die Bevölkerungsgruppen, denen der Kommunismus doch helfen will, Arbeiter und Bauern?
Der letzte Text hebt in seiner satirischen Leichtigkeit die Schwere dieser Überlegungen fast wieder auf: „Der Liebe Gott in Russland“ hat nichts mehr zu tun, „geht spazieren, unerkannt, ein alter Herr …“ – seine Rolle hat die Partei übernommen. Anklänge an die Allmacht der heutigen russischen Führung hallen nach.
Reisen in die Ukraine und nach RusslandJoseph Roth / Julia Finkernagel (Herausgeber) /
138 Seiten, 18,- €, (Büchergilde-Ausgabe) In Augsburg erhältlich bei der Buchhandlung im Obstmarkt
Text: Sabine Sirach
138 Seiten, 18,- €, (Büchergilde-Ausgabe) In Augsburg erhältlich bei der Buchhandlung im Obstmarkt
Text: Sabine Sirach
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