„Wir sind alle Parasiten der Intelligenz Bertolt Brechts!“

Was hält er wohl davon? Yotam Gotal zeigt dem Araber das Ergebnis der filmischen
Umsetzung seiner Geschichte.


Die Brecht-Rezeption von Afghanistan bis Amerika in vier Filmen aus USA, Indien, Israel und Afghanistan beim World Wide Brecht-Festival


An einem ganz besonderen Nachmittag ließ sich in der Festivalzentrale im tim bewundern, wie intensiv sich Medienschaffende weltweit mit Brecht auseinandersetzen. Von artifiziell bis fast unbearbeitet, von kritisch hinterfragend bis ganz direkt umgesetzt, von distanziert-intellektuell bis emotional-involviert reicht das Spektrum der vier Filme, die – unter Live-Einbeziehung der Filmemacher online und auf der Festivalbühne – in Augsburg uraufgeführt wurden.

Was für ein Glücksgriff der Festivalmacher!


Truman State University, Kirksville, Missouri/USA: „Learning Play“

Vorsicht Falle! Man fällt tatsächlich erst einmal darauf herein, dass – in der Regie von Meredith Grimm-Howell – zwischen vier Studenten bei Proben zu einem Lehrstück (Learning Play) von Brecht heftige Konflikte aufbrechen. Das geht so weit, dass die Sinnfälligkeit eines erklecklichen Sponsorships durch das Brechtfestival bezweifelt wird und am Ende die Frage steht, ob man das Geld nicht besser einer wohltätigen Organisation spenden solle. Es stellt sich aber heraus, dass das Ganze ein „Mockumentary“, eine „Fake-Dokumentation“, ist.

Probenarbeit in Missouri.

 

Die Studenten diskutieren den Gebrauchswert von Klassikern und Lehrstücken; sie reiben sich am dialektischen Theater, das Konflikte zeigt, ohne sie aufzulösen; halten Brecht für kompliziert und verwerfen die Prämisse, dass Lehrstücke für die Schauspieler, nicht fürs Publikum gedacht seien. Dabei kommen auch die Zukunftsängste der Studenten, was sie denn mit all dem im Studium gelernten Zeug überhaupt anfangen können, zur Sprache.

Am Ende steht das Ziel: „The Americans tried their best“. Das ist ihnen wirklich gelungen!


Soumyabrata Choudhury, Neu-Delhi/Indien: “A Migrant Walk”

Im Mittelpunkt des Films von Choudhury, der in Neu-Delhi Theater- und Performance-Studies lehrt, stehen Indiens Millionen an Wanderarbeiter*innen, die aus den Dörfern in die Metropolen ziehen, um sich ein besseres Leben zu ermöglichen und den Lebensunterhalt für ihre Familien zu sichern. Während des Corona-Lockdowns entfielen ihre Jobs, und so machten sie sich zu Fuß auf den Weg in ihre Dörfer – über tausende von Kilometern! Hunderte von ihnen starben auf dem Weg, sechs Arbeiter wurden von einem Zug überfahren, als sie auf den Gleisen eingeschlafen waren.

Im Live-Talk mit Indien: Festivalleiter Jürgen Kuttner spricht mit Kai Tuchmann und Filmemacher Soumyabrata Choudhury auf der Bühne, und online Anuja Ghosalkar
und Co-Regisseurin Priyanka Chobra.

 

Kuratiert von Anuja Ghosalkar und Kai Tuchmann (den wir bereits mit den chinesischen Studenten kennengelernt haben), kontrastiert Choudhury kritisch das Elend dieser Menschen, die nicht auf ihren Füßen nach Hause kommen, mit Brechts sozialistisch-heroisch-technikgläubigem Impetus in seinem „Ozeanflug“ von 1928, in künstlerisch sehr gelungenen Filmcollagen von fallenden Federn, ins All startenden Raketen und den in Kabul aus Flugzeugen fallenden Menschen. Ein komplexes, anklagendes Werk über die Träume und Wirklichkeit derer, auf deren Arbeit der Reichtum der Städter beruht.


Yotam Gotal, Tel Aviv/Israel: „The Desert a City“

Brecht kannte Yotam Gotal, Regisseur, Schauspieler und Autor in Tel Aviv, schon seit der Schule – „umgehauen“ hat ihn dann der Fatzer: „ a very rare piece of theater“, wie er sagt. Er bekam die Einladung des Brecht-Festivals, das „Lesebuch für Städtebewohner“ filmisch zu inszenieren; er wollte ergründen, wie relevant dieser Brecht-Text noch sein kann – wo doch die von ihm beschriebenen Städte aus Stahl und Krach in Israel so nicht mehr existieren, wie er meint. Für maximalen Kontrast beschloss er, seinen Film nicht in der Stadt, sondern in der Stille der Wüste zu drehen.

Das Wüstendorf am Toten Meer in Israel.

Dann passierte ein ganz und gar unerwarteter Glücksfall. Als Basis für den Film wollte das Team auf der Straße in Jaffa einfach jemanden ansprechen und eine Geschichte erfragen. Was sie nicht erwartet hatten: Sie trafen – nach mehreren Ablehnungen von Angesprochenen – auf Chalil, einen Araber, der ihnen von der Gentrifizierung in seiner Umgebung berichtete. Er sei von einem aus Frankreich Eingewanderten mit richtig viel Geld gelockt worden, sein Haus zu verkaufen.

Das Team dreht den Kurzfilm dann in einem Wüstendorf am Toten Meer, zeigt das Leben der Alteingesessenen in einer kurzen Szene mit einer Wasser schleppenden alten Frau und thematisiert die Gentrifizierung in einem Dialog eines Neuankömmlings mit der Besitzerin eines Hauses. Nach Fertigstellung kontaktieren sie Chalil wieder und zeigen ihm den Film – und er ist begeistert!

Was diesen Film wirklich herausragend macht, ist die leichtfüßig anhand des Glücksfalls mit Chalil dargestellte Kritik an den Zuständen der Gentrifizierung und der Verdrängung der Araber in Israel. Der Film wurde noch nicht in Israel gezeigt; Yotam Gotal selbst ist schon gespannt auf die Reaktionen in seiner Heimat und freute sich sehr über den Zuspruch in Augsburg.


Simorgh Theater, Herat/Afghanistan: „Das fünfte Rad“

Die Situation seit dem Abzug der alliierten Truppen und der Machtübernahme durch die Taliban bedeutet für viele Frauen ein „Leben, ohne dass man gesehen werden darf“. Die Künstlerinnen des nur aus Frauen bestehenden, preisgekrönten Simorgh-Theaters in Herat stehen auf keiner Liste der zu schützenden Personen, und so sind sie gezwungen, von Versteck zu Versteck zu eilen (sie waren vorher nicht nur öffentlich aufgetreten, sondern hatten Frauen in Frauenhäusern versorgt, sich um Waisen gekümmert und – was sie bekannt machte und jetzt besonders gefährdet – mit inhaftierten Taliban gearbeitet).
 
„Verwisch die Spuren!“, rät Brecht, sehr aktuell für Frauen in Afghanistan.


Voneinander getrennt, kämpfen sie mit Handys, deren Inhalt zur Sicherheit jeden Tag gelöscht werden muss, gegen die Isolation. Sie setzen sich im Untergrund mit Brechts Texten „Aus dem Lesebuch für Städtebewohner“ auseinander und versuchen ins Bild zu bringen, was diese Perspektive ermöglicht. Wie sehr Zeilen wie „Zeige dein Gesicht nicht! Verwisch die Spuren! Öffne die Tür nicht!“ aus Brechts Text auf die Lebenssituation der Frauen zutrifft, ist erschütternd.

Zu Besuch beim Brecht-Festival: die Koordinatoren des Films mit dem Simorgh Theater
in Afghanistan.

 

Wieder zeigt sich die Aktualität und Zeitlosigkeit Brechts, dessen Ziel es war, mit Kunst die Wirklichkeit zu verändern. Dazu passend: die Absicht, mit dem Film den Simorgh-Frauen zu helfen, aus dem Land zu kommen. Im Publikum hatten manche Tränen des Mitgefühls in den Augen.


Text und Fotos: Sabine Sirach

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