„Du bist ein Mädchen, du hast nichts!“

In der Diskussion über das erschütternde Thema: (v.l.) Regisseurin Nicole Schneiderbauer, Geschlechter- und Gesundheitsforscherin Ann Kristin Augst und die Autorin Tine Rahel Völcker.


Frauen der Unterwelt:
Eine szenische Lesung und Diskussion zu den Grausamkeiten der NS-Zeit


In sieben Akten stellt das Schauspiel „Frauen der Unterwelt“ von Tine Rahel Völcker die grausamen Schicksale von Frauen vor, die von den Nationalsozialisten für verrückt erklärt wurden und der Euthanasie zum Opfer fielen. Als Einführung in die auf nächste Spielzeit verschobene Uraufführung des Staatstheaters gab es im Alten Rock Café eine szenische Lesung mit anschließendem Gespräch. Die Veranstaltung fand im Rahmen des Begleitprogramms »Zukunft der Erinnerung« statt und beschäftigte sich mit historischen Kontinuitäten von gewalttätigen Strukturen, mit NS-Euthanasie und ihren Auswirkungen auf unsere heutige Gesellschaft.

Mitglieder des Schauspiel-Ensembles (Ute Fiedler, Christina Jung, Katja Sieder, Florian Gerteis und Andrej Kaminsky) lasen vier ausgewählte Akte des Stückes, jeweils überschrieben mit den Namen der Getöteten.

In den Jahren 1940/41 fielen allein 13.712 psychisch auffällige Frauen dem Nazi-Regime zum Opfer. Bei der einen störte „mein Intellekt“, bei der anderen „mein Körper“, bei einer dritten „meine Trauer“ – unterschiedlichste Auslöser, wie die einseitigen wiederholenden Tätigkeiten einer allzu intelligenten Stenotypistin in einer Zeitungsredaktion; oder das Mädchen Lina, das nicht zum religiösen Denken auf dem Bauernhof der Eltern passt, sondern frei sein will – sie wird in die Irrenanstalt gebracht und dort zwangssterilisiert, damit die Familie Ruhe hat vor ihrer „Verschrobenheit“: „Du bist ein Mädchen, du hast nichts!“ Oder das Schicksal von Christa, das durch ihren Zwillingsbruder Klaus geschildert wird: Sie will nicht lernen, kommt ins Heim und wird in der Gaskammer getötet. Der Vater kämpft dafür, als „gesund im Kopf“ zu gelten, und wird dennoch wegen „angeborenem Schwachsinn“ unfruchtbar gemacht.

Die sorgfältig recherchierten Einzelschicksale stehen für die Grausamkeit, mit der psychisch Kranke oder abweichende Frauen dem „Volkskörper“ entzogen wurden. Die Würde des Menschen war nicht mehr vorhanden, im Zentrum stand der kostengünstige, arbeitsfähige Körper, gesund und so wenig auffällig wie möglich – nahe an der heutigen Hype um Selbstoptimierung, wie die Geschlechter- und Gesundheitsforscherin Ann Kristin Augst in der anschließenden Diskussion meinte. Nicht der einzige aktuelle Bezug: die dargestellten Frauenfiguren mit Konflikten aus geschlechtsspezifischen Ursachen, die auch heute noch vorkommen: Frauen als defizitäre Körper, als „Mängelwesen“, denen noch heute schneller psychische Krankheiten diagnostiziert und die mit mehr Psychopharmaka behandelt werden. Laut der Autorin Tine Rahel Völcker wird auch heute noch in der Psychiatrie physische und psychische Gewalt angewendet (Stichworte Fixierung und sedierende Medikamente).

Das Stück zitiert in weiten Teilen die kalte, entmenschlichte Sprache der Originaltexte – Passagen aus Krankenakten – und setzt ihnen die subjektive Sprache der Betroffenen entgegen. Dass die eigentliche Tötung der Kranken in den Akten gar nicht mehr auftaucht, ist für die Autorin schwer auszuhalten. Bis heute habe sich da nicht viel geändert, wie die Regisseurin Nicole Schneiderbauer berichtete: Sie schilderte mit erstaunlicher Offenheit ihren Konflikt mit den Ärzten über die Einleitung der Geburt ihres Kindes. Die entindividualisierende Sprache und die Fallpauschalen der Abrechnung ließen bewusst keine Nähe des Arztes zur Patientin zu.

Beispiele dafür, dass die Gesellschaft auch heute noch durch Kranke nicht belastet werden soll, wurden in der Diskussion angesprochen: Da ist die Intergeschlechtlichkeit, die als Behinderung angesehen wird und deswegen Grund für eine Abtreibung sein kann. Die Frage bei der Sterbehilfe, die als Freiheit des Einzelnen gesehen wird, mit ihrer Kehrseite, der Gesellschaft bloß nicht zur Last zu fallen. Oder die Privatisierung der Behinderung eines Kindes, wenn den Eltern vorgeworfen wird, sich für das Kind entschieden zu haben. Wie die Gesundheitsforscherin betonte, habe auch heute noch die Frau nicht die volle Selbstbestimmung über ihren Körper. So habe eine Frau, die sich sterilisieren lassen wolle, immer noch große Hürden zu überwinden; schließlich ist eine Frau auch immer noch potentielle Mutter.

Ein erschütternder Abend mit sehr deutlichen Gedankengängen. Man darf gespannt sein auf das Stück (Premiere ist voraussichtlich am 25. Februar 2023).


Text und Foto: Sabine Sirach

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