Peter Grimes im Staatstheater: Tragödie mit viel Witz und Gummistiefeln

Ist es wirklich Kindesmissbrauch? (Moritz Weinold, Richard Furman)




Die Oper „Peter Grimes“ von Benjamin Britten im Martini-Park


Die letzte Opernpremiere der Saison feierte das Staatstheater Augsburg am Sonntag: Mit großer Besetzung – Philharmonisches Orchester, Opernchor und Extrachor wird Brittens „Peter Grimes“ aufgeführt.

Mit „Peter Grimes“ gelang Benjamin Britten im Jahr 1945 der Durchbruch als Opernkomponist. Inspiriert wurde er zu dieser Oper durch die Verserzählung »The Borough« von George Crabbe (einem sozial eingestellten anglikanischen Geistlichen), die Montagu Slater daraufhin als Grundlage für sein Libretto nahm. Britten stammte selbst aus einem ostenglischen Fischerstädtchen und fühlte sich seiner Heimat so verbunden, dass er 1942 aus dem amerikanischen Exil nach England zurückkehrte, dem Pazifisten wurde die Kriegsdienstverweigerung im Zweiten Weltkrieg zugestanden. Mit dem Peter Grimes wollte er sein „Mitgefühl für den ständigen Kampf der Männer und Frauen, deren Lebensunterhalt vom Meer abhängt, zum Ausdruck bringen“.

Die Honoratioren des Dorfes klagen Peter Grimes an.



Musikalisch durchdringt das Meer alle Akte der Oper, deren Überschriften dem Wetter und der Natur entnommen sind: Dämmerung, Sturm, Mondschein und Nebel charakterisieren auch die Handlung. Peter Grimes ist von seinem letzten Fischfang ohne seinen Lehrjungen zurückgekehrt und hat keine plausible Erklärung, was mit dem Jungen passiert ist. Er wird vor Gericht gestellt, aber freigesprochen – doch das Misstrauen der Dorfbewohner bleibt an ihm haften: „Die Leute vergessen nicht!“ Peter soll dennoch einen neuen Lehrjungen aus dem Waisenhaus bekommen. In einer Szene im Pub, wo nicht alles legal zugeht (Drogenhandel und Prostitution stehen unausgesprochen im Raum) wird er offen angefeindet und nur von seinem Freund Balstrode (Wiard Witholt) in Schutz genommen. Tage später entdeckt Ellen (Sally du Randt), Peters große Liebe, Verletzungen am Körper des neuen Lehrjungen und wird nun auch misstrauisch: Der Vorwurf des Kindesmissbrauchs steht im Raum. Als auch der neue Junge durch einen Unfall ums Leben kommt, rotten sich die Dorfbewohner zur Lynchjustiz zusammen – die Szene lässt an einen Nazi-Aufmarsch denken. Doch auf den Rat von Balstrode fährt Peter mit seinem Boot aufs Meer hinaus und versenkt sich selber.

Die sexy „Nichten“ der Pub-Besitzerin.



Die vielfältigen Stimmungen des Meeres und der Menschen gibt Britten lautmalerisch eindringlich wieder. Ruhige Landschaftsbeschreibungen, romantische Anklänge und zarte Duette wechseln sich ab mit großem dramatischen Gestus des Chors oder der Gruppe der Dorf-Honoratioren. Gegen Schluss zu wandelt sich die innige Liebesszene zwischen Peter und Ellen in Aggression und Tragik; als Peter Grimes im Nebel zu seinem Boot aufbricht, verstummt die Musik beinahe.

Die Augsburger Inszenierung verweigert eine Interpretation und Schuldzuweisung. Die große Frage, die die Oper stellt, lautet: Kann die Unschuldsvermutung aufrecht erhalten werden, auch wenn eventuell ein Kindeswohl gefährdet ist? Auch im Programmheft werden in der Handlungsübersicht all die Fragen nur gestellt und nicht beantwortet, die Britten offen lässt: Wie ist der Junge gestorben? Verkauft die Pub-Besitzerin auch die Körper ihrer Nichten? Verliert Peter Grimes den Bezug zur Realität? In manchen Szenen meint man Brittens Intention zu hören, etwa wenn der dramatische Tod des Jungen zartfühlend mit Querflöten und Harfe erzählt wird. Einige Wucht bringen biblische Zitate ein, etwa wenn Passagen aus der Hiob-Geschichte auf Grimes bezogen werden, oder Ellen dem Dorf entgegenschleudert: „Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“

Am Ende hält nur sein Freund (Wiard Witholt, re.) noch zu Peter (Richard Furman, li.) – schickt ihn aber in den Tod.




Was jetzt alles sehr tragisch und dramatisch klingt, ist in der Inszenierung von Dirk Schmeding, der in Augsburg bereits „Solaris“ und „Ariadne auf Naxos“ inszenierte, ausgesprochen witzig umgesetzt. Das fängt an bei pointiert gezeichneten Charakteren wie der selbstgerechten Witwe Mrs Sedley (großartig in Stimme und Witz: Christianne de Bélanger), dem bigotten Methodisten (Pascal Herington) oder den beiden „Nichten“, die sehr sexy daherkommen und alle Männer um den Finger wickeln. Das schlichte Bühnenbild deutet die englische Felsküste an und bietet eine Wasserpfütze, in der die Akteure genüsslich in Gummistiefeln herumpatschen. Leider gibt es auch unnötige Gags, die wohl das Publikum einbeziehen sollen, aber eher die Nerven strapazieren: Gefolgt von einigem Husten wird der Zuschauerraum in Trockeneisnebel eingehüllt, und die Platzierung von Peter Grimes im Publikum führt dazu, dass die vordere Hälfte sich den Nacken verdreht und seine expressive Mimik dennoch nicht wirklich sieht.

Ausgesprochenes Pech gab es übrigens mit der Besetzung der Titelrolle des Peter Grimes: Jacques le Roux, ursprünglich eingeplant, wurde zwei Wochen vor der Premiere krank, ihn ersetzte Richard Furman, der aber Stimmprobleme bekam. Und nun sprang Peter Marsh von der Oper Frankfurt ein und sang den Part vom Orchestergraben aus. Szenisch war Richard Furman zu erleben. Man hätte nicht vermutet, wie gut das funktionierte! Nach kürzester Zeit vergaß man, dass Furman gar nicht sang – so gut spielte er und so phantastisch war die Synchronizität der beiden! Chapeau. Das Publikum belohnte die zwei Sänger mit begeistertem Applaus für ihre Leistung.

Die Oper von Benjamin Britten in großer Besetzung: mit Philharmonischem Orchester, Chor und Extra-Chor – und dem kurzfristig eingesprungenen Peter Marsh (rechts unterhalb des Mondes, im blauen Anzug).




P.S. Die Oper wird in englischer Sprache mit deutscher Übertitelung aufgeführt. Leider strotzte diese wieder einmal vor Schreib- und Tippfehlern. Kann das Staatstheater bitte endlich ein Lektorat für die Übertitel einführen?


Text: Sabine Sirach
Fotos: Jan-Pieter Fuhr, Sabine Sirach

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