15 Jahre Literatur Salon Augsburg - Intelligent durchexerziert

Kurt Idrizovic bei der Begrüßung und „Akustik-Probe“.


Leichtigkeit des Gemüts und bedeutsame Bücher:
Ein sommerlicher Jubiläums-Literatursalon



Eine feste Institution für Augsburgs Literaturliebhaber ist jetzt schon seit 15 Jahren der Literarische Salon, veranstaltet von der Buchhandlung am Obstmarkt. Deren Inhaber Kurt Idrizovic wies in seiner Begrüßung („Ich mache hier nur die Akustik-Überprüfung ohne Mikrofon“) auf das Jubiläum hin – und erntete dafür spontanen Applaus.

Horst Thieme stellt „Yoga“ vor.

Natalie Acksteiner moderierte den Abend im Brunnenhof des Zeughauses. Sie ist jetzt Pressesprecherin beim Bezirk Schwaben, war aber vorher in derselben Funktion bei der Büchergilde Gutenberg in Frankfurt a. M. tätig – bis sie dem Diktum eines Freundes folgte: „Ein Leben ohne Bücher ist sinnlos, ein Leben außerhalb der Buchbranche aber durchaus möglich!“ 

Der schöne Sommerabend inspiriere zu einer gewissen „Leichtigkeit des Gemüts“ und lasse kurzzeitig die schwere Zeit der aktuellen Krisen verblassen; man werde sehen, wie sie in ein paar Jahren literarisch verarbeitet worden sei.

In der Diskussion: Acksteiner, Kliche, Thieme und Müller.
Horst Thieme, „Poetry-Slam-Papst“, der jetzt als Smart City Manager die Stadt Augsburg digitalisiert, stellte das Buch „Yoga“ vor, einen autofiktionalen Roman des französischen Autors Emmanuel Carrère. 

Ausgangspunkt des mäandernden Buchs ist der Rückzug des Ich-Erzählers in ein Yoga-Retreat; er wird aber durch den Charlie Hebdo-Anschlag zurück ins Pariser Leben katapultiert und dann mit seiner Depression und dem Flüchtlingselend auf Lesbos konfrontiert. 

Warum man das Buch lesen solle? Es sei sehr ehrlich, werfe aber auch die Frage auf, die in Frankreich heftig diskutiert wurde: Was ist Wahrheit, und wie viel Autobiografisches davon darf ein Schriftsteller preisgeben? 


In der Diskussion bestand Einigkeit, dass es ein großartiges Buch sei, kritisiert wurde lediglich, dass der Erzähler manchmal schon sehr abschweife und man die Selbstbespiegelung auch als Eitelkeit interpretieren könne.

Natalie Acksteiners Anmoderation.
Lutz Kliche, Literatur-Vermittler und Übersetzer lateinamerikanischer Literatur, brachte den neuesten Roman des Literatur-Nobelpreisträgers Orhan Pamuk, „Die Nächte der Pest“, in die Diskussion ein. Der habe das Buch als „Chronik in Romanform“ geschrieben, da seiner Ansicht nach reines Geschichtswissen nicht ausreiche, um die Zeit des Umbruchs in der Türkei zu verstehen. Das Buch handelt von einem fiktiven Pest-Ausbruch auf einer fiktiven Insel vor der türkischen Küste im Jahr 1901 und ist eine Parabel auf den Verfall des späten Osmanischen Reichs. 

Pamuk habe das Pech gehabt, dass, nach all seiner mühseligen Recherche über Pandemien, bei uns Corona ausbrach und sein Wissen damit schon Allgemeingut war. Marius Müller verglich die fiktive Insel mit Lummerland und merkte an, das Buch sei oft zu detailliert (Horst Thieme drückte das etwas zurückhaltender aus: „es hat Längen“). 
Man war sich einig, dass es nicht Pamuks bestes Buch sei.




Marius Müller stellt „Anomalie“ vor.

Nach der Pause stellte Marius Müller, Bibliothekar und Literaturblogger der „Buch-Haltung“, „Anomalie“ von Hervé Le Tellier vor. Die Anomalie besteht darin, dass dasselbe Flugzeug mit denselben Insassen zweimal landet und die Insassen mit sich selber konfrontiert werden. 

Laut Müller ein bekanntes literarisches Motiv intelligent durchexerziert. Lutz Kliche findet das Buch sehr unterhaltsam, meint aber, es wären vielleicht ein paar zu viele Geschichten, dadurch kämen manche auch zu kurz. Einig waren sich die Diskutanten, dass es ein großartiges, leicht lesbares Buch sei, das mehrere Genres vereine (die Science Fiction-Fans werden sich auf die geplante Verfilmung freuen – Anklänge an die Matrix sind garantiert).








Lutz Kliche (links) sieht die Dinge differenziert.
Hier im Gespräch mit Tom Dittrich, dem ehemaligen Betreiber
des Kinos Liliom.

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Highlights aus dem Empfehlungen der vier Salonisti:


Horst Thieme: Olivia Kuderewski, in Augsburg bekannt von den Brecht-Tagen: „Lux“ und Katja Diehl „AUTO-Korrektur – Mobilität für eine lebenswerte Welt“; die Autorin kommt am 28.6. zu einer Lesung bei Tür an Tür nach Augsburg.

Lutz Kliche: „Serge“ von Yasmina Reza, ein Knaller, der so in Deutschland nicht geschrieben werden könne, und „Die glücklichsten Menschen der Welt“ vom großen alten Mann der afrikanischen Literatur Wole Soyinka, makaber und erhellend für alle, die mehr über Afrika verstehen wollen.

Marius Müller: schon jetzt eine weihnachtliche Geschichte: „Kleine Dinge“ von Claire Keegan, in der Nonnen schmutzige Wäsche waschen; „Der Aufgang“ von Stefan Hertmans, in dem die Spur des Bösen auch in die Stauden, genauer nach Anhausen führt.

Natalie Acksteiner: „Zusammenkunft“, das Debüt von Natasha Brown über eine junge Schwarze, die den Aufstieg in der Weißen Gesellschaft versucht; „Queen Elizabeth“ aus der schön illustrierten Kinderbuch-Reihe „Little People Big Dreams“ und ein allein schon wegen der Aufmachung her „cooles“ Buch, der letzte Lyrikband von Friederike Mayröcker.



Text und Fotos: Sabine Sirach


Literatur-Salon: Drei Besucher mit schicken Brillen.


Literatur-Salon: Ein Schwätzchen in der Pause. Im Brunnenhof war eine Getränkebar aufgebaut.


P.S.: Die nächsten Literarischen Salons finden am 31.7. 2022 im Augsburger Taubenschlag an der City-Galerie und am 4.8. 2022 wieder im Brunnenhof des Zeughauses statt.


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