Sensemble-Premiere: Furor / Furioser Abend endet nicht mit drei Leichen!

 

Szenen aus dem aufregenden Stück Furor im Augsburger Sensemble-Theater mit Marina Lötschert,  Raschid Daniel Sidgi und Julian Baschab.


Der Vorhang geht auf - besser: wird sehr achtsam von Altenpflegerin Nele Siebold geöffnet. Willkommen bei Furor! "Willkommen bei meinem Livestream", ertönt es durch eine Ringlampe für Influencer … Und eine Wahrsagerin verspricht eine glückliche Zukunft.

Das Augsburger Sensemble-Theater bringt das Stück mit den Titel "Furor" von Lutz Hübner und Sarah Nemitz auf die Bühne. In einer Inszenierung  von Marco Milling. Furor, da dürfen sich die Zuschauer und Zuschauerinnen auf 90 Minuten Spannung gefasst machen, wenn man von der eigentlichen Wort-Bedeutung ausgeht.
Der Furor aus dem Lateinischen: toben, rasen, wüten in Gedanken, Worten und Taten.

Das Publikum ist sofort mittendrin. Da sind sie, die Hauptakteure: die Pflegerin Nele Seibold, gespielt von Marina Lötschert, in einfacher, praktischer Kleidung mit langer grüner Weste. Ihr Neffe, Jerome Siebold, offensichtlich gut drin in den sozialen Medien von Facebook bis TikTok. Im wirklichen Leben ist er Paketzusteller, gespielt wird er von Julian Baschab. Fehlt nur noch Herr Braubach, OB-Kandidat, verkörpert von Raschid Daniel Sidgi.

Halt, die eigentliche Hauptperson des Stückes kommt weder zu Wort, noch tritt sie sichtbar auf die Bühne. Es ist Enno Siebold, der minderjährige, drogenabhängige  Sohn von Nele Siebold. Er hatte vor einiger Zeit ein schreckliches Schicksal, einen folgenschweren Unfall. Er wurde von einem Auto angefahren. Es musste ihm sogar ein Bein amputiert werden. Erst seit einem Tag von der Intensivstation aufs Krankenzimmer verlegt. Der Fahrer des Unfallwagens war Herr Braubach.  Mit einem Gutachten wurde er von der Schuld am Unfall frei gesprochen. Herr Braubach besucht Ennos Mutter. Den Jungen hat er einmal im Krankenhaus besucht. Warum eigentlich? Um seine weisse Weste noch zu bekräftigen, oder um sein ehrliches Mitgefühl auszudrücken und zu helfen? Hier kann sich das Publikum selbst seine Meinung bilden, seine Wahrheit finden.

Darum geht's in dem Stück: um subjektive Wahrheiten und unzählige Meinungen, die wir so zahlreich durch viele Medien auch in unserem Lebensalltag finden. Ennos Mutter ist es erstmal egal, ob schuld oder nicht schuld. Sie empfängt Herrn Braubach in ihrer Wohnung mit Vorwürfen und Schuldzuweisungen, meint, dass er sich zu wenig kümmert, zu wenig Mitgefühl zeigt, keine Empathie, zu spätes Auftauchen bei ihr, gut dastehen in den Medien, sich zu wenig entschuldigt und Nele Siebold geht gleich zu einer Generalschuldzuweisung über, dass ja überhaupt die Politik, die Gesellschaft schuld ist, dass Jugendliche mit Drogen versumpfen.

Eine verfahrene Situation, ein Furor in sich, zu dem sich das Bühnenbild völlig konträr präsentiert, zu den verkorksten Akteuren, die mit ihrer  Angst, Schuld, Armut und Verworrensein leben, einschließlich Braubach. Ein weisser Untergrund, sozusagen das reine, weisse Papier, die weisse Weste. Darauf blanke Holzstühle und am Rand ein Apfel.  Symbol fürs Paradies? Ist das die Vision, die glückliche Vorhersage der Zukunft, der Wunsch nach Klarheit im Leben, den das Bühnenbild ausdrücken möchte.

Auf diesem weissen Untergrund findet der Furor statt. Braubach sucht Rechtfertigungen und Ausreden, schiebt die Schuld dem Jungen selber zu, redet sich frei von Schuld. Er sei eine Person des öffentlichen Lebens, von seinem Team beeinflusst … doch es gelingt ihm mit Unterstützungszusagen für Enno - jetzt und in Zukunft - Nele Siebold zu beruhigen, für sich zu gewinnen. Es hat den Anschein, als sei alles zum Besten  geklärt.

Doch nun kommt Jerome Siebold, der Neffe von Nele, ins Spiel, auf die Bühne, in die Wohnung. Er ist Paketzusteller, frustriert von Gesellschaft und Politik, von seiner schlecht bezahlten Arbeit, tauscht sich in allen möglichen Medien mit Seinesgleichen, in seiner Blase aus. Er findet dort Bestätigung, dass alle anderen schuld sind an seinem Leben, vor allem Leute wie Braubach. 

Was hat das mit der Sache, dem Unfall, zu tun, fragt sich der Zuschauer. Sind es die mitfühlenden Familienbande, der männliche Beistand für die Tante Nele, oder was steckt hinter seinem Auftauchen?  Schnell wird es klar, er tut zwar anfangs so, als ginge es ihm um seinen Cousin Enno, doch es geht schnell um ihn und sein eigenes Elend.

Jerome steigert sich rein, knallt dem Herrn Braubach seine Meinungsbilder, seine Polarisierungen und seine Wahrheiten vor den Latz. Dazu hohe Geldforderungen. Ennos Mutter wollte gar nicht dabei sein, weil sie vielleicht froh war, wie sich das Gespräch mit Braubach und ihr entwickelt hatte. Doch sie kehrt in die Wohnung zurück und gerät mitten in den Furor von Erpressungsversuchen, Bedrohungen, Angsteinflössungen.

Die Wut, der Hass, steigert sich gegengüber von Ungerechtigkeit, in den Gesellschaftsschichten, zielt auf die Person von Braubach. Es kommt zu Wortgefechten, Handgreiflichkeiten, Aggression, zu ironischen, sarkastischen Widerlichkeiten auf beiden Seiten. 

Marina Lötschert hat sich intensiv mit dem Stück beschäftigt: "Was ist Wahrheit? Wer hat Recht? Wenn man sich nicht selbst ein Bild davon machen kann, ist das heutzutage sehr schwierig.  Jeder kann seinen Senf, seine Wahrheit bei den sozialen Medien mitteilen und verbreiten. Man müsste selbst dabei gewesen sein, damit man jede Seite berücksichtigen kann."

Und immer wieder taucht der Satz auf: "Wenn es auch nicht so war, stimmt es doch!"

Braubach nach einem heissen Disput: "Ich kann jetzt Diktatoren verstehen und wäre gerne einer." Jerome fährt mit unbewiesenen im Netz aufgetauchten  Behauptungen auf, dass Braubach alkoholisiert und viel zu schnell gefahren sei beim Unfall. Als von Jerome ein Messer gezückt wird, hat es den Anschein von Selbstjustiz. Doch zuerst wird das Messer als Apfelschneider verwendet, dann verwandelt es sich in ein Drohwerkzeug. Der Kampf beginnt. Am Ende muss man froh und glücklich sein, dass der Abend nicht mit drei Leichen endet und Enno der einzige Überlebende ist. 

Das Publikum ist erleichtert, dass die Schauspielerin und ihre Kollegen den Furor selbst mit Humor und der Erkenntnis auflösen, dass sie auf der Theaterbühne stehen und alles nur gespielt ist.

Zu den Rollen:

Marina Lötschert als Altenpflegerin Nele Siebold: Ihr beeindruckendes Schauspiel saugt uns schnell in das Geschehen auf der Bühne. Wir verstehen ihre Wut, wir fühlen Ihren Kummer und Verzweiflung. Wir akzeptieren ihre Vereinbarungen mit Braubach zum Wohl ihres Sohnes. Wir spüren, sie ist mit ganzem Herzen verständnisvolle Mutter die alles für ihren Sohn tut, auch ekelhafte Unterhaltungen mit einem aalglatten Politiker aushält. Lötschert erreicht mit dieser Rolle ein sehr hohes Schauspielniveau und wir hätten sie bei diesem Stück gerne länger auf der Bühne gesehen. Bravo, so irre toll kann mit ihrer Bühnen-Leidenschaft Theater sein.

Julian Baschab als Paketbote und Influencer Jerome Siebold: Er hat eine schwierige Rolle als emotionsgeladener junger Weltverbesserer. Dazu muss er dauernd mit dem Messer herumfuchteln, was ihn natürlich ziemlich unsympathisch macht. Mit seinen Influencer-Aktionen zeigt er den verführerischen Cocktail von scheinbarer Wahrheit und Machthunger. Fakenews sind da nicht weit. Leider ist sein Text zu jammerig und nicht so ausgefeilt wie der von Braubach. Damit lässt sich leider nicht gross glänzen. Trotzdem lebt Baschab seine Rolle fantastisch gut.

Raschid Daniel Sidgi als OB-Kandidat Herr Braubach: Allein sein grandioser Wutanfall mit halbem Purzelbaum und Faustschlägen gegen die Welt ist den Theaterbesuch wert. Seine Rolle als schleimiger Politiker mit kühlem Egoismus, bei dem  ab und zu Verständnis für die Jugend und ihren revolutionären Geist durchscheint, hat er echt drauf. Es ist ein wahres Vergnügen seine chamäleonhaften Charakterwandlungen mitzumachen. Durchaus glaubhaft lässt er Reste von Moral und Gewissen durchblitzen. Bravo, das ist Schauspielkunst mit höchstem Unterhaltungsfaktor.

Zur Produktion

Marco Milling hat uns als Regisseur eine gekonnte Mixtur aus Theater und Multimedia serviert. Er hat erkannt, dass die Dialoge auf der Bühne nicht immer attraktive Szenen hergeben. 

Die perfekt eingespielten Videos brachten die nötige Farbe und Action. Krass geil fabriziert von Marco Miling und Sebastian Seidel. Mehr als gelungen waren die Videos mit Marina Lötschert als zynisch-böser Batman-Feind Joker mit blutigem Grinsen. Grandiose Grimasse, die für schlaflose Nächte sorgt.

Langer Applaus bei der Premiere belohnt das Darsteller-Trio, den Regisseur und alle beteiligten Akteure für ihre wochenlangen  Proben, die tolle Inszenierung und die herausragende Schauspielleistung. 

Deshalb: keine Angst vor Furor und unbedingt einen der Aufführungstermine wahrnehmen.

Bericht: Lina Mann


Weitere Infos, Termine und Tickets sind hier zu finden.
www.sensemble.de/

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