Anne Frank an einem Täterort des Nationalsozialismus zu Wort kommen lassen

Patricia von Miserony spielt Anne Franks Gefühle sehr eindringlich: Trotz, …


Beklemmend aktuell:
Anne Franks Tagebücher als Monolog im Abraxas



Vor leider sehr kleinem Publikum gab es im Abraxas eine intensive Aufführung der Tagebücher von Anne Frank zu sehen. Die Berliner Schauspielerin Patricia von Miserony legte einen fast zweistündigen Monolog hin, der es in sich hatte! Sie ließ die Gefühle des eingesperrten jüdischen Mädchens lebendig werden, ihre Einsamkeit, Verzweiflung, ihr Aufbegehren, den Trotz – und, exzellent gespielt, die Verwirrung des pubertierenden Teenagers mit der Sehnsucht nach Liebe. Sie taumelt und tigert über die Bühne, schreit, flüstert und tanzt.

Der Münchner Regisseur und Autor Peter Glockner arbeitet seit 2017 kontinuierlich mit der Schauspielerin zusammen, unter anderem an gemeinsam entwickelten Monologen. „Anne Franks Tagebücher. Ein Monolog“ ist ihre dritte gemeinsame Arbeit dieser Art, uraufgeführt in Salzburg im November 2021. Die Inszenierung basiert fast ausschließlich auf den Originaltexten der Tagebuch-Texte/Briefe an eine imaginäre Kitty (übrigens in der Ausgabe aus den 1980er Jahren; die jetzt erhältliche Ausgabe sei ihm zu stark redigiert, erwähnt Glockner im Gespräch), nur kurze Texteinschübe anderer Autoren verdeutlichen das Hadern mit Gott, der eigenen Religion und dem deutschen Vaterland. Anne, 1929 in Frankfurt am Main geboren, schreibt über sich selbst: „Ich bin eine Deutsche. Ich wollte sterben fürs Vaterland, wie die Soldaten.“

Jetzt aber ist sie eine Staatenlose, mit ihrer Familie untergetaucht in einem Hinterhaus in Amsterdam. Zunächst freundlich aufgenommen von Amsterdamer Familien, spüren die Untergetauchten dennoch den aufkeimenden Judenhass auch bei ihren Gastgebern. Als immer wieder aufkeimende Hoffnungen über bevorstehende Offensiven der Alliierten zerschlagen werden, resümiert Anne: „Überall ist Vernichtung.“ Erstaunlich erwachsen wirken Annes komplexe philosophische Überlegungen über den Tod.

… Verzweiflung …


Der Bezug der Texte zu heute ist überdeutlich: Die Kriegsberichte von den Fronten, die Anne in der BBC im Radio hört, erinnern sehr an die Nachrichten vom Ukraine-Krieg, und Annes Frage: „warum werden täglich Millionen für den Krieg ausgegeben statt für Heilkunde und Kunst?“ kann man wieder genau so stellen. Dass Antisemitismus und Judenhasses auch heute wieder aktuell sind, wird auf beklemmende Weise im schwarzen, leeren Abraxas-Theater spürbar. Auch zum Corona-Lockdown gibt es Parallelen: Die Klaustrophobie des Mädchens („Ich will Luft!“), ihre Sehnsucht nach Sonne und Parks, nach der Schule und dem Spiel mit Freundinnen.

Die Inszenierung entfaltet ihre Intensität auf kahler Bühne, mit nur minimalen Requisiten (Bücher, eine Glühbirne, ein Theatersessel, ein Feuerlöscher). Musik und Hintergrundgeräusche (leider manchmal etwas zu laut für die sensibel vorgetragenen Texte) sowie schlaglichtartig eingesetzte Beleuchtung tragen zur Beklemmung bei, die Daten der Tagebucheintragungen werden in Nazi-Typografie als Übertitel eingeblendet und gemahnen an einen Countdown bis zu Annes Deportation. Ein Ausschnitt aus der Rede Charlie Chaplins aus dem „Großen Diktator“ vermittelt kurzzeitig ein wenig Menschlichkeit. Gegen Ende wird aus dem Monolog ein Dialog – mit dem (in der Maske an Brandner Kaspar erinnernden) Tod!

… bis zur Erstarrung.


Für das Augsburger Gastspiel eignete sich das Kulturhaus abraxas nicht nur wegen der Intimität des Theatersaals, der die Situation der Eingeschlossenen greifbar macht. Indem das Stück die Figur der Anne Frank an einem ehemaligen Täterort des Nationalsozialismus zu Wort kommen lässt – das heutige Kulturhaus wurde erbaut als Offizierscasino der NS-Wehrmacht –, setzt es der Ideologie der Erbauer eine Gegenstimme entgegen.

Nach der Vorstellung gab es eine lebhafte Diskussion der Zuschauer mit dem Regisseur; alle waren sich darüber einig, wie sehr die Aufführung und Lektüre der Tagebücher sich immer wieder lohnt.



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Übrigens: Vom 15. bis 17. Juni ist im Abraxas noch eine andere Inszenierung von Peter Glockner zu sehen: „Paganinis Frauen“, eine Textcollage von über das Verhältnis des Teufelsgeigers Niccolo Paganini zu seinen zahlreichen Frauen.


Text und Fotos: Sabine Sirach




Die Anne-Frank-Wanderausstellung kommt nach Augsburg:
Laufzeit 
30. Juni bis 21. Juli 2022

Ausstellungsort
Rathaus, Unterer Fletz, Rathausplatz 2, 86150 Augsburg

Offizielle Eröffnung 
29. Juni 2022, 18:00 Uhr mit dem Ensemble „Feygele“ Teilnehmern des Klezmer-Workshops sowie der Schreibwerkstatt des Maria-Theresia-Gymnasiums.

Öffnungszeiten
Täglich geöffnet von 10:00 – 18:00 Uhr

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