Kompletter Idiot

 

„Welcome Home“: In ihrem Elternhaus ist Jess nicht wirklich willkommen.


Virtuelle Verarbeitung der grausamen Realität:
Mit »Ugly Lies the Bone« nähert sich das Staatstheater der Traumatisierung einer Afghanistan-Veteranin an


Als letzte Premiere der laufenden Spielzeit bringt das Staatstheater das Stück »Ugly Lies the Bone« der preisgekrönten amerikanischen Autorin Lindsey Ferrentino als deutschsprachige Erstaufführung auf die Brechtbühne. Die Inszenierung ist eine hybride Form aus Live-Theater auf der Bühne und Virtual Reality-Elementen per VR-Brille.

Das Stück handelt von der Kriegs-Veteranin Jess (Christina Jung), die durch ihren Einsatz in Afghanistan physisch schwer verletzt und seelisch traumatisiert ist und sich in ihrem früheren Leben in Florida nicht mehr zurechtfindet; sie stößt bei ihren Verwandten und Freunden auf nichts als Unverständnis. In Deutschland erinnert die Geschichte natürlich sofort an Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“, sie hat aber noch einen besonderen, modernen Dreh: Jess nimmt an einem Virtual Reality-gestützten Programm der US-Armee teil, das ihr helfen soll, ihre Schmerzen und ihr Trauma zu überwinden – die Alternative wäre nur, dauernd Morphium zu nehmen.

In realen Schockmomenten rennt die traumatisierte Afghanistan-Veteranin panisch los.


Das Publikum taucht mit Jess in die virtuelle Realität ein und sieht sie als Avatar, wie sie sich inmitten von schwarzen beweglichen Blöcken bewegt, einen Berg besteigt und nur knapp einem Absturz entgeht. Den Wechsel zwischen dem klassischen Bühnenstück und den VR-Szenen vollziehen die Zuschauer mittels VR-Brillen mit, die sie auf Kommando des „Operators“ (Florian Gerteis) gemeinsam mit Jess an mehreren Stellen im Stück aufsetzen, um sie zu ihren Therapiesitzungen zu begleiten. Das funktioniert soweit gut, durch die grafisch sehr reduzierte virtuelle Realität erschließt sich allerdings nicht, wie sie helfen soll, Schmerzen zu reduzieren – das bleibt das Geheimnis der US-Armee oder des Augsburger 3D-Artisten Benjamin Seuffert (in der Digitalsparte des Staatstheater Augsburg für den Bereich Digital Content & Interactive Media zuständig).

Traumatisierung und Entfremdung Jess´ Heimatstadt Titusville/Florida, wo vom „John F. Kennedy Space Center“ der NASA die bemannten Raumflüge der USA starteten, ist im Niedergang begriffen, seit von dort keine Space Shuttles mehr starten. Das wirkt sich in Form von Arbeitslosigkeit oder tristen Billiglohn-Jobs auch auf die Verwandten und Freunde der Afghanistan-Heimkehrerin aus, die ihrer Heimat auf diese Weise doppelt entfremdet ist. Auch im Privatleben der Daheimgebliebenen hat sich während Jess´ Abwesenheit einiges verändert: Ihre Schwester Kacie (Katja Sieder) hat einen neuen Freund, Kelvin (Sebastian Müller-Stahl), den Jess nur als kompletten Idioten empfindet. Ihr Ex-Freund Stevie (Julius Kuhn) arbeitet als alberner Pizza-Promoter an einer Tankstelle und hat eine andere Frau geheiratet. Er ist aber der Einzige, der sich wirklich mit Jess auseinandersetzt, sich nach der gemeinsamen Zeit zurücksehnt und sie zu verstehen versucht.

Als Avatar in der virtuellen Realität soll sie sich von ihren Schmerzen und Traumata befreien.


Die physische Verletzung selbst – schwere Brandwunden nach einer Explosion – stellt die Augsburger Aufführung nicht dar; sie wird nur durch die Schmerztherapie deutlich. Vielmehr ist Jess so beweglich, dass sie in Schockmomenten losrennt (es gibt mehrere Knalleffekte). Ihre Traumatisierung ist dadurch noch glaubhafter als ohnehin schon durch die Dialoge, in denen sie unsentimental und sehr direkt, ja manchmal sprachlos auf die Zumutungen und Banalitäten reagiert, als die sie die Äußerungen ihrer Mitmenschen empfindet. Die Inszenierung ist ein weiterer Baustein in der Augsburger Strategie, das Digitaltheater in Vernetzung mit den anderen Sparten des Staatstheaters zu etablieren. Insbesondere für diesen innovativen Ansatz wurde Intendant André Bücker jetzt als Mitglied in die Akademie der Darstellenden Künste aufgenommen, dem wichtigsten deutschen Bühnen-Netzwerk. Wir gratulieren und freuen uns für ihn und das Augsburger Theater!


Text: Sabine Sirach

Fotos: Jan-Pieter Fuhr; Szene aus der Virtuellen Realität: Benjamin Seuffert

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