Lektüre in der Diskussion: "Gebrüll und diverse Austritte!"

Die beiden Literatur-Dialogisten Michael Schreiner und Kurt Idrizovic
auf dem Podium.


Über viele Bücher – und die Entscheidung fürs Nicht-Lesen
Der Lese-Zeichen Dialog in der Stadtbücherei



Eine gut gelaunte Veranstaltung für reales und virtuelles Publikum: Vier Mal im Jahr diskutieren Michael Schreiner (ex-Augsburger Allgemeine Redakteur) und Kurt Idrizovic (Buchhändler, Literaturveranstalter und feste Größe im Augsburger Kulturleben) in der Stadtbücherei über Bücher, Phänomene des Buchmarktes und ihre subjektiven Lese-Erlebnisse.

Klar, dass sie diesmal mit dem neuen Roman „Der Schlaf in den Uhren“ von Uwe Tellkamp beginnen mussten, ist er doch das derzeit meist diskutierte und rezensierte Buch Deutschlands. Schreiners provokante Frage: „Ist der Titel schon das Beste an dem Buch?“ wurde nicht beantwortet – beide Diskutanten hatten das Buch noch nicht gelesen, ihnen erschien aber die Rezeption von Buch und Autor bemerkenswert: Die Skandalisierung des „nach rechts abgedrifteten“ (Der Spiegel) Autors nach einer Aussage über Flüchtlinge hatte bereits im Vorfeld des neuen Buchs hohe Wellen geschlagen – und war prompt der Auslöser dafür, dass es schleunigst auf der Bestsellerliste auftauchte, obwohl doch alle „von einer gewissen Qual“ bei der Lektüre berichteten.

Der nächste Skandal der Literaturszene, dem sich die beiden näherten, war die Aufregung im PEN-Zentrum Deutschland. Während Schreiner noch rätselte, ob uns das interessieren müsse, war für Idrizovic klar: Ja! „Wir fordern doch immer, dass sich Literaten auch politisch äußern, und der PEN geht mit einer gewissen Ernsthaftigkeit an Themen heran.“ Dass der ausufernde Streit – bekanntlich bezeichnete dessen Vorsitzender Denis Yücel den PEN nach seinem Rücktritt als „Bratwurstbude“ – sich an typisch Deutschem entzündete (es ging ums Vereinsrecht) und in Gebrüll und diversen Austritten endete, verursachte nach Idrizovics Meinung deswegen so einen Aufruhr, weil man es einfach nicht mehr gewöhnt sei, dass Autoren sich streiten oder politisch äußern – deswegen auch die große Aufmerksamkeit für den offenen Brief von Intellektuellen um Alice Schwarzer an Kanzler Scholz gegen Waffenlieferungen in die Ukraine. Immerhin hätten beide Skandale hohen Unterhaltungswert!


Michael Schreiner, Exil-Augsburger, Ex-Kultusjournalist.



Natürlich hatten beide auch Buch-Empfehlungen im Gepäck. Idrizovic ließ sich von „Eine Frage der Chemie“ von Bonnie Garmus begeistern, der Geschichte einer Wissenschaftlerin in den 50er Jahren, die von ihren männlichen Kollegen bedrängt wird und dennoch ihren Humor behält. Der Krimi „Cooper“ von Jens Eisel schildert den bis heute offenen Fall einer Flugzeugentführung aus den 70er Jahren, während „Der Holländer“ von Mathijs Deen, ein Krimi, bei dem man viel über das Watt lernen könne, die Auseinandersetzungen der Grenzkräfte Deutschlands und der Niederlande thematisiert. „Der Hypnotiseur“ von Jakob Hein, eine Geschichte um einen, der in der DDR seine Klienten per Hypnose auf Reisen in ferne Länder schickt, ist ebenfalls eine Empfehlung Idrizovics, wie auch „Der Morgenstern“, neuer spannender Roman von Karl Ove Knausgård über ein Himmelsphänomen, das die Menschen verändert; hier gab es einen Querverweis auf das „Wunderzeichenbuch“ aus Augsburg von 1552.

Buchhändler Kurt Idrizovic, der „manische Buchverfolger“ und Profi-Leser.


Michael Schreiner, der sich selbst als „zuständig für Handke“ erklärt, stellte gleich zwei neue Bücher seines Lieblingsautors vor, „Zwiegespräch“ (von dem Schreiner und Idrizovic beide nicht überzeugt waren) und den neuen Band mit Tagebüchern (von dem Schreiner schwärmte, weil hier ein wacher Beobachter Lust auf das Spiel mit Sprache mache und Einblicke in das eigene Schreiben biete). Schreiner empfahl auch „Zeitzuflucht“ des bulgarischen Autors Georgi Gospodinov, der das große Thema Erinnerung und Vergessen klug und witzig darstelle. Über „Yoga“ von Emmanuel Carrère waren sich beide einig: “Ein sehr aufrichtiges, autofiktionales Buch“ nicht nur für Yoga-Begeisterte.

An „Erschütterung“ von Percival Everett gibt es ein ganz neues Phänomen: Drei inhaltlich verschiedene Versionen, von außen nicht erkennbar. Buchhändler Idrizovic kam erst in der Diskussion mit einer Kundin auf die Unterschiede, kann aber auch nicht erklären, was das Ganze soll – ein Marketing-Gag? Für ihn als Buchhändler könnten übrigens goldene Zeiten anbrechen, denn: „Albrecht Hornbach – der Gründer der Baumarktkette – prophezeit, es bahne sich ein Jahrzehnt des Zuhauses an! Wunderbar!“

Hier sieht man in der Stadtbücherei einen Teil des anwesenden und das gesamte virtuelle Publikum.


Als Schreiner allerdings äußerte, er sei „vor allem ein Nichtleser“, schaute der Buchhändler kurzzeitig doch etwas traurig. Es ging aber um das bewusste Nichtlesen von Büchern wie die von Carsten Henn, der sich mit seinen Kitsch-Romanen hartnäckig auf den Bestsellerlisten halte. Auch Empfehlungen für Serien-Fortsetzungen bei Amazon seien keine Versuchung für einen entschiedenen Nicht-Leser. Und wenn man dann doch lese: Solle oder dürfe man in Büchern Passagen mit Bleistift, Neon-Marker oder Eselsohren markieren? Und was, bitteschön, solle ein Unfug mit Inhaltswarnungen wie die vom Steidl Verlag: „Bitte achten Sie beim Lesen auf sich“ – „Ja was denn sonst?“ (Idrizovic)

Da bleibe laut Michael Schreiner bloß, sich an Peter Handkes Rat zu halten: „Jetzt hilft nur noch Lesen!“

Die gesamte Veranstaltung ist hier zu sehen.

Der nächste Dialog findet am 1. September 2022 statt.


Text und Fotos: Sabine Sirach

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