Trauer und Sorge sind auf allen Gesichtern zu sehen

Den Genuss des Kammerkonzerts ermöglichten (von links nach rechts):
Takeo Sato (Gitarre), Jane Berger (Violine, Konzept und Programm), Dina Bolshakova
(Violoncello), Elisabeth Schneider (Violine), Prof. Michael Eberth (Cembalo), Susanne
Simenec (Gesang) und Klaus Müller als Erzähler.

 

Die Pest zu London im Corona-geplagten Augsburg:
Kammerkonzert mit Lesung im Schaezlerpalais


Unter dem Titel „Wunderheiler und Wahrsager“ lud das Staatstheater am 3. Juni zum
6. Kammerkonzert ins Schaezlerpalais. Neben englischer und italienischer
Barockmusik waren kurze Passagen aus dem Bericht »Die Pest zu London« von
Daniel Defoe zu hören, der von der Zeit der großen Londoner Pestepidemie im Jahr
1665 handelt.


Das Konzept und Programm für den Abend erdachte Jane Berger, Violinistin am Augsburger
Staatstheater. Ihr Ansatzpunkt war natürlich Corona; wirklich erstaunlich sind die Parallelen
im Umgang der Menschen mit den Epidemien damals und heute!


Daniel Defoe beschrieb im Jahr 1722 in einem fiktiven Dokumentarbericht einen der letzten
großen Pest-Ausbrüche, der 1665 die Londoner Bevölkerung in Angst und Schrecken
versetzte. Drastisch, detailreich und mit viel Galgenhumor schilderte der berühmte Autor von
»Robinson Crusoe« eine multikulturelle Großstadt, die zwischen Medizin, Gottesglaube und
Astrologie einen Weg aus der Krise suchte. Klaus Müller vom Schauspielensemble des
Staatstheater Augsburg las Passagen aus dem Text, umrahmt von zeitgenössischer Musik.
Vor annähernd vollem Rokokosaal im Schaezlerpalais war von den „Vorboten“ bis zum
Abklingen der Seuche zu hören. Anfangs bricht große Aufregung aus, als es die ersten
bestätigten Pesttoten gibt, dann passiert allerdings sechs Wochen lang nichts – bis Gerüchte
von neuen Todesfällen auftauchen, mit wöchentlicher Verdopplung der Todeszahlen in zwei
Kirchspielen. 

Die Verheimlichung durch die Obrigkeiten verstärkt nur das „äußerste
Entsetzen“ der Bevölkerung. Der Adel hastet aus der Stadt, die noblen Viertel sind bald
entvölkert. Auch der Ich-Erzähler zweifelt: „Soll ich fliehen?“ und wägt ab zwischen dem
Erhalt seines Geschäfts in der Stadt und seinem Leben. Das Aussehen Londons verändert
sich zusehends, Trauer und Sorge sind auf allen Gesichtern zu sehen: „Ganz London
schwamm in Tränen“, nach und nach bricht die mühsam aufrecht erhaltene Ordnung
zusammen. 

Gleichzeitig haben Aberglaube und Schwindeleien Hochkonjunktur, von Defoe
ironisch und scharf geißelnd beschrieben. Da gab es, wie vor dem Großen Brand von
London, einen Schweifstern zu sehen, dessen Aussehen breit interpretiert wurde. Dann
begann ein großer „Unfug“, die Leute rannten zu Wahrsagern, es gab Horoskope, Schwarze
Kunst und ähnlichen „sinnlosen Blödsinn“. Quacksalber priesen ihre „Anti-Pest-Pillen“ und
andere „wundervolle Kuren“ an und brachten so ihre Kunden „mit anderen Giften als dem
Seuchengift“ unter die Erde.


Defoe schildert aber auch humorvolle Geschichten wie die von der Armenhäuslerin, die
durch ihre Hartnäckigkeit – man möchte sagen, einem Shitstorm des 17. Jahrhunderts – vom
Mirakelarzt nicht nur den Rat, sondern auch die Medizin kostenlos bekommt. Oder die vom
Sackpfeifer, der seinen Rausch ausgerechnet auf dem Leichenwagen ausschläft, für einen
Pesttoten gehalten und beinahe lebendig begraben wird.


Im September 1665 ist dann der Höhepunkt der Seuche erreicht, die Sterblichkeit geht
zurück, es gibt mehr Heilungen und weniger Tote. Prompt wird die Pest nicht mehr so ernst
genommen, obwohl die Ärzte dieser „Kopflosigkeit“ widersprechen und zu äußerster Vorsicht
mahnen – wem kommen da nicht die Mahner aus dem Gesundheitswesen im Jahr 2022 in
den Sinn? Die Menschen sind zunächst „aus voller Seele dankbar“, aber dann kehren
Undankbarkeit und Schlechtigkeit schnell zurück. Defoes Ich-Erzähler drückt das so aus: „An
Hunderttausend nahm die Pest mit, doch ich, ich blieb am Leben!“

Gerade in der Zeit der Pest beschloss König Charles II, in musikalischer Hinsicht an den
anderen Höfen Europas den Anschluss zu suchen. Der römische Stil galt als unübertrefflich,
viele italienische Musiker fanden den Weg nach London und trafen auf einheimische Genies.
Mit Kompositionen von Vincenzo Alberici, Arcangelo Corelli, Nicola Matteis, John Blow,
Henry Purcell und Matthew Locke ließen nun Susanne Simenec vom Opernchor des
Staatstheaters Augsburg und Mitglieder der Augsburger Philharmoniker die Zeit wieder
aufleben.


Um mit dem Pest-Thema „nicht zu viel Melancholie“ aufkommen zu lassen, hatte Jane
Berger eher leichtere, feinsinnig-höfische Barockmusik ausgesucht, die sich im Rokokosaal
besonders genießen ließ. Die ausgewählten Komponisten hatten wohl nur zum Teil die Pest
selbst miterlebt, insgesamt konnte man aus der Musik am ehesten die Erleichterung nach
dem Ende der Seuche heraushören. So kam die „Sonetta after the Italion (sic!) Way“ fast
tänzerisch-flott daher, auch die Liedtexte waren teils ironisch zu verstehen. Das Ensemble
war hervorragend aufeinander abgestimmt. Einen Extra-Applaus bekam Jane Berger für ihr
Violinsolo mit Nicola Matteis´ kräftigem „Passaggio Rotto“, das passenderweise beim letzten
Wort „Getöse“ des Textes vom Schweifstern einsetzte. Das Cembalo agierte zumeist als
Untermalung und gab der Musik ihr zeitgemäßes Gepräge, kam dann aber ebenfalls mit
einem Solo zu Matteis´ „Scaramuccia prestissimo“ zur Geltung.


Susanne Simenec, kräftiger Sopran vom Opernchor, brachte mit ihrer klaren Stimme auch
das altertümliche Englisch der Lieder sehr verständlich zu Gehör und kolorierte gerade die
heiteren Passagen in Giovanni Battista Draghis „Where art thou, God of dreams?“, während
sie die düstere „Dido´s Lament“ aus Purcells Dido und Aeneas sehr gefühlvoll ausklingen
ließ und das „Drop, drop, drop“ der „Music for a While“ passend zum Ende der Pest fast
fröhlich lautmalte.


Als Zugabe nach dem großen, anhaltenden Applaus gab es noch „Etwas Frostiges“ (Jane
Berger): Die Arie „What power art thou?“ aus dem 3. Akt der Oper King Arthur von Henry
Purcell, die textlich noch einmal auf das Thema des Abends zurückgriff: „Let me freeze again
to Death…“ und das Publikum damit in die kalte Regennacht entließ.


Text und Foto: Sabine Sirach

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