Große Vergangenheit - Kleine Zukunft ?

Titelbild des Buches über 150 Jahre SPD in Lechhausen.



Festschrift zu 150 Jahre SPD Lechhausen

Seit 4. September feiert für vier Wochen mit zahlreichen Veranstaltungen der Ortsverein Lechhausen der Augsburger SPD ein markantes Jubiläum. 150(+1) Jahre besteht einer der ältesten Ortsvereine (damals Sektion) Deutschlands. Dazu haben Roman Mönig, Hans Blöchl und Angelika Lonnemann (Hrsg.) eine 170(!) seitige Festschrift zur Geschichte des Ortsvereins und des immer noch größten Augsburger Stadtteils verfasst. Selbst wenn man die unvermeidlichen Grußworte weglässt, erfährt man erstaunliches, erzürnendes und erbauliches über den Einfluss der Sozialdemokratie im Arbeitervorort von 1871 bis 2020.

Die SPD Lechhausen agierte bis nach Schrobenhausen

Mit Akribie und enormen Fleiß wurde seitens der Autoren, allesamt ehrenamtlich und unentgeltlich, in den Archiven von Partei, Presse und Stadt geforscht und dokumentiert. Da stellte sich z.B. heraus daß der Ortsverein Lechhausen im Jahre 1914 nicht nur 900 Mitglieder hatte, sondern auch die Sektionen Schrobenhausen, Friedberg, Siebenbrunn, Mering und Hochzoll umfasste. Tatsächlich ein riesiges Vereinsgebiet verglichen mit dem räumlich kleinen Ortsverein heute. Wäre in der Hammerschmiede außer der Wolframfabrik noch Wohnungen gestanden und in der Firnhaberau schon gesiedelt worden, dann wäre das Präsenzgebiet der Sozis wohl fünfmal so groß gewesen wie das ihrer Genossen in der Bezirkshauptstadt Augsburg.

Verfolgt, verhöhnt, verhaftet

Der inhaltliche Ursprung der SPD Lechhausen lag in den unzumutbaren Lebensbedingungen der Arbeiter in den Augsburger Fabriken. Roman Mönig beschreibt die Widerstandskraft gegen Lohndrücken, willkürliche Disziplinierungen in der Fabrik u.a. als treibenden Faktor zur Vereinsgründung. Als nach einem erfolglosen Attentat auf den Kaiser die politisch Schuldigen gesucht wurden, so Mönig, waren auch die in SPD und Gewerkschaften organisierten Lechhauser plötzlich allesamt Kriminelle wie alle anderen unter die Sozialistengesetze fallenden Arbeiterorganisationen. Diese wurden mit alttestamentarischer Härte verfolgt und deren Mitglieder verhaftet. Oder zumindest als Staatsgefährder verhöhnt. Augenzwinkernd schreibt Mönig, dass die Lechhauser Gendarmen oftmals nichts Belastbares fanden, weil die Sozis cleverer als die Obrigkeit waren und keine Beweismittel bei ihren geheimen Treffen hinterließen.

Einlieferungsnachweis ins KZ Dachau für einen Lechhauser SPDler durch die
Nazi-Regierung.



Gestohlen, um groß zu werden

Die Festschrift verweist natürlich auf die Erfolge der SPD Lechhausen im Kampf um Löhne und andere Arbeitsbedingungen. Besonders lesenswert ist das Kapitel gewidmet der größten Lechhauser Textilfabrik, der Prinz AG, geschrieben von Gerhard Götz. Deren Erfolg war in der Industriespionage in Indien zur Herstellung von Stoffdrucken begründet. Die Textiler hatten anfangs wenig Anteil am Erfolg, erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde eine Betriebskranken- oder auch Pensionskasse eingerichtet.

Hilfe zur Selbsthilfe

Die geringen Sozialleistungen der Lechhauser und Augsburger Betriebe beschreibt Mönig als Antrieb für die SPD Lechhausen, ein Netzwerk an Einrichtungen zu schaffen, in welchen die Arbeiter, insbesondere aber die Arbeiterinnen und Hausfrauen mit ihrem schmalen Budget auskömmlich leben konnten. Sie gründeten die Vereinigung der modern Organisierten=Corporationen Lechhausen. Das war eine Art Dachverband aller zugunsten der Arbeiter wirkenden Vereine. Konsumverein, als Einkaufsgemeinschaft, um günstige Lebensmittelpreise zu erzielen, Kranken- und Sterbekasse der Metallarbeiter, freie Turnerschaft zur Leibesertüchtigung, oder den Mieterverein Lechhausen, alles Einrichtungen der Solidargemeinschaft. Auch zwei Baugenossenschaften wurden gegründet, eine davon heute sinnigerweise in festen Händen der CSU Lechhausen, ebenso wie der Sängerbund. Ungeachtet der gegenwärtigen Bedingungen schuf die SPD Lechhausen nachhaltige Hilfe zum Arbeiterleben.

Vereinsgebiet der Lechhauser SPD um 1914.



Aufgegangen, aber nicht untergegangen

Mit der Eingemeindung der 1913 rund 20.000 Einwohner zählenden nunmehr Stadt Lechhausen war auch der Ortsverein der SPD nach Augsburg gekommen. Seine Selbstständigkeit war obsolet und die Genossen wurden Bestandteil der großstädtischen Sozialdemokratie. Dennoch blieben die “rechtslechischen Sozis“ erkennbar. Mönig und Blöchl fanden z.B. Dokumente wie die Lechhauser im 3. Reich sich gegen die Nationalsozialisten wehrten. Einlieferungslisten ins KZ, Flugblätter zum Widerstand in der „Eisernen Front“ zeugen davon. Die Selbständig- und politische Eigenständigkeit, gelegentlich auch Renitenz, reicht bis ins Heute.

Ausstellung in der Projektschmiede, Neuburger Straße 4

Beredtes Beispiel war, das steht zwar nicht in der Festschrift, wurde aber am Eröffnungstag der das Jubiläum begleitenden Ausstellung von einem Zeitzeugen erzählt. Allen Lechhauser SPD Repräsentanten gemein ist die Bürgernähe. Sie kennen sich aus mit den Sorgen und Nöten in der Vorstadt. Keiner von jenen ist ein Kathetersozialist a la Lafontaine. Lechhauser Sozis setzen sich nicht nur mit dem politischen Gegner auseinander, sondern lassen schon mal innerparteilich die Fetzen fliegen.

Ohne Lechhausen gäbe es keine Müllverbrennung in Augsburg.

 

Mülltonnenstochern zur Beweisführung

Eben jene, so ein Stadtratsbeschluss sollten Ende in der 1980 Jahre beschlossenen neuen Müllverbrennung verascht werden. Alles drin, Haus-, Gewerbe- und sonstiger Müll, alles in einer sog. Ofenlinie. Die SPD Mehrheitsfraktion schloss aus Kostengründen einen Sondermüllofen aus („Brauchts net!“). Das wollten die Lechhauser Stadträte nicht hinnehmen, denn zum einen würden alle Arten von Gewerbemüll, aber insbesondere auch Abfälle aus Arztpraxen und Apotheken mit dem harmlosen Hausmüll verbrannt. Zum anderen wusste keiner, wie sich die Abgasfahnen aus der Verbrennungsanlage über Lechhausen verbreiten würden. Das Argument des damaligen zuständigen SPD Referenten, dass die Mengen vernachlässigbar seien, wollten die Lechhauser SPDler nicht glauben. Folglich leerten sie nächtelang heimlich betroffene Mülltonnen, stiegen in Großcontainer, wühlten sich ausgerüstet mit Taschenlampe und Tüten durch alles, was der Lechhauser nicht in den Lech schmeißt, um den Vernachlässigbar-Beweis zu widerlegen. Derart sachlich und geruchlich munitioniert, musste der Müllreferent eingestehen, dass es wohl ohne Sondermüllofen nicht geht. Der wurde gebaut und Augsburgs Abfallverwertungsanlage war zu Betriebsbeginn nicht nur die modernste, sondern auch die umweltfreundlichste. So geht Bürgerverantwortung.

Kleine Zukunft?

Die Geschichte der Lechhauser SPD ist eine Dokumentation zur Augsburger Heimat, geschrieben und erzählt von und über Menschen, die sich für das Gemeinwohl eingesetzt (einsetzen) haben. Die politische Durchschlagskraft des 19./20. Jahrhundert kann die SPD Lechhausen, wie auch andere große Parteien oder Einrichtungen heute nicht mehr erreichen. Unsere Gesellschaft, und damit der Auftraggeber für die Politik, stellt zwischenzeitlich das Individualwohl über das Gemeinwohl. Umso mehr lohnt es, die Festschrift zu lesen, in der die Botschaft steckt „weniger für mich ist mehr für uns alle“.

Michael Ehrmanntraut

150 Jahre SPD Lechhausen, Roman Mönig, Hans Blöchl, Angelika Lonnemann (Hrsg.) Augsburg 2022, Eigenverlag € 9,90

Erhältlich in der Augsburger Buchhandlung am Obstmarkt.


Bilder: Festschrift



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