Literatur-Vermittler Lutz Kliche über 100jährige Autorin Ruth Weiss: "Gegen jede Art von Ungerechtigkeit!"

 

Die Autorin Ruth Weiss: Ihr 100jähriges Leben für Demokratie und Menschlichkeit.


Neue Augsburger Rundschau im Gespräch mit dem Augsburger Literatur-Vermittler Lutz Kliche zum aktuellen Buch der 100jährigen Autorin Ruth Weiss:

ERINNERN HEISST HANDELN
Mein Jahrhundertleben für Demokratie und Menschlichkeit

In unserem Interview spricht Lutz Kliche über seine mehr als 40jährige Arbeit und Freundschaft mit dieser beeindruckenden Frau.


Neue Augsburger Rundschau: Was meint der Titel "Erinnern heißt handeln" ihres neuen Buches?

Lutz Kliche: Der hebräische Begriff "Zachor - Erinnere Dich!" ist ein zentraler Begriff im Judentum, darauf hat der Philosoph Omri Boehm in seiner zum 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Buchenwald  geplanten Rede kürzlich noch einmal hingewiesen. "Erinnerung", so sagt er da, " ist Aufruf zum Handeln." Und in genau diesem Sinne ist das Handeln für Ruth ein Leben lang wichtig gewesen, es war für sie ein Schlüssel zur Überwindung schwerer Zeiten, wie Ruth sie oft genug hat erleben müssen: am eigenen Leib als jüdische Verfolgte des Naziregimes, als Zeugin im rassistischen Apartheidsstaat Südafrika, als politisch Verfolgte, als sie von der südafrikanischen und dann der südrhodesischen Regierung ausgewiesen wurde, weil sie als Journalistin die Verbrechen dieser Regime aufgedeckt und angeklagt hatte.


Neue Augsburger Rundschau:  Beschreibe uns bitte kurz den Inhalt dieses Buches.

Lutz Kliche: Mit ihrer eigenen Biografie zieht Ruth Bilanz ihres über 100jährigen Lebens und begründet ihre Kernbotschaft: Nur wenn wir es schaffen, trotz aller gegenseitigen Verletzungen aufeinander zuzugehen, uns zuzuhören und den Dialog miteinander zu führen, werden wir es schaffen, die Gräben von Hass, Ablehnung und Abschottung zu überwinden und zu einem friedlichen Zusammenleben gelangen. Diese Botschaft ist heute wichtiger denn je.


Neue Augsburger Rundschau: Wie bist du an diesem Buch beteiligt?

Lutz Kliche: Ich bin mit Ruth seit gut 45 Jahren eng verbunden und habe mit und von ihr in verschiedenen Verlagen zahlreiche Bücher gemacht. Aus dieser langjährigen Verbindung und dem heraus, was ich als eine tiefe Seelenverwandtschaft empfinde, haben wir in den letzten Monaten intensive Gespräche geführt, um gemeinsam die eben erwähnte Kernbotschaft ihres Lebens und Werks herauszuarbeiten und einem möglichst breiten Lesepublikum zugänglich zu machen, vor allem der jüngeren Generation. Ruth ist ja eine Zeitzeugin vieler politischer Entwicklungen des 20. Jahrhunderts und als Journalistin bestens geeignet, diese Entwicklungen zu reflektieren und darüber zu schreiben. Es ist uns bei unseren zahllosen gemeinsamen Schullesungen immer ein Anliegen gewesen, ihre Erfahrungen gerade jungen Menschen weiterzugeben. Getreu dem Satz des spanischen Philosophen George Santayana, den wir als Motto dem Buch vorangestellt haben: "Wer die Vergangenheit nicht kennt, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen."


Neue Augsburger Rundschau: Wie konnte Ruth Weiss als Jüdin die mörderischen Nazis im Dritten Reich überleben?

Lutz Kliche: Ruths Vater hatte Verwandte in Südafrika und deshalb konnte die Familie 1936 dorthin emigrieren. 1935 hatten die Nazi die unseligen "Nürnberger Rassegesetze" erlassen, die allen jüdischen Bürger:innen die Staatsbürgerschaft entzogen, und kurz darauf schloss die südafrikanische Regierung - noch nicht die Apartheidsregierung - auf Druck rechter Kreise die Grenzen für Jüdinnen und Juden, sodass Ruth mit ihrer Schwester und Mutter gerade noch mit einem der letzten Schiffe, der Tanganjika, ins Land gelangen konnte. Ein Schicksal, das sie mit vielen Geflüchteten heutzutage teilt.

Im Jahr 2024 feierte die Journalistin Ruth Weiss ihren 100. Geburtstag.
Zeit, auf dieses Jahrhundertleben zurückzublicken. Mit klarem Blick
und unerschütterlichem Glauben an die Menschlichkeit ruft Ruth Weiss dazu auf,
Erinnerung als aktive Kraft für eine demokratische Zukunft zu nutzen.



Neue Augsburger Rundschau: Kann uns dieses Buch erklären, wie es zu dieser braunen und brutalen Diktatur in Deutschland kommen konnte?

Lutz Kliche: Ich denke, die Entstehungsgeschichte der Nazidiktatur aus Kaiserreich, 1. Weltkrieg, den als nationale Schmach empfundenen "Versailler Schandverträgen", den politisch turbulenten Jahren der Weimarer Republik mit Weltwirtschaftskrise ist zu komplex, als dass sie in einem einzigen Buch, noch dazu einem autobiografischen "Erinnerungsbuch", das auch Ruths lange Jahre in Afrika einschließt, erklärt werden könnte. Aber in Ruths Schilderungen ihrer Kindheit wird schon deutlich, welches Klima in der Gesellschaft damals herrschte und wie schnell Jüdinnen und Juden damals ausgegrenzt und zu Sündenböcken erklärt wurden. Nicht unähnlich dem aktuellen Klima der Diskriminierung und Ausgrenzung in unserer Gesellschaft Geflüchteten und anderen gesellschaftlichen Gruppen gegenüber.


Neue Augsburger Rundschau: Gibt es Passagen in diesem Buch, die dich besonders berühren?

Lutz Kliche: Ja, die gibt  es sehr wohl. Eine Passage von brennender Aktualität geht mir besonders unter die Haut: Da beschreibt Ruth, wie sie Anfang der 1960er Jahren zum ersten Mal Israel besucht und über das damals noch zu Jordanien gehörende Ostjerusalem einreist, das Israel im 6-Tagekrieg als Teil der Westbank besetzt hat. Ruth ließ sich mit dem Taxi zum Mandelbaumtor bringen, um zu Fuß in den israelischen Teil der Stadt zu gelangen. Und sie schreibt: "Ein dunkelhäutiger Junge trug meinen Koffer durch das Niemandsland über die Straße am Tor. Auf halbem Wege hielt er inne und setzte die Last ab, ich gab ihm eine Münze. Sofort kam von der anderen Seite ein anderer dunkelhäutiger Junge angerannt und nahm das Gepäck entgegen. Sie hätten Brüder sein können: ein Araber und ein Jude. Sie waren Brüder, aber sie durften es nicht sein." Für mich fasst diese Szene und die Art und Weise, wie Ruth sie beschreibt, die ganze Tragik der heutigen Situation im Nahen Osten besser zusammen als viele politische Analysen.


Neue Augsburger Rundschau: Wie kam es zur Zusammenarbeit zwischen dir und Ruth Weiß?

Lutz Kliche: Als ich Anfang der 1980er Jahre als junger Lektor im Peter Hammer Verlag meinen ersten richtigen Job nach dem Studium hatte, plante der Verlag ein erstes autobiografisches Buch mit Ruth. Sie war zwar noch nicht ganz 60 Jahre alt, hatte aber schon genügend erlebt, um mehrere Bücher zu füllen. Ich hatte damals das Privileg, dieses Buchprojekt mit ihr zu betreuen. Seither kennen wir uns.


Neue Augsburger Rundschau: Warum arbeitest du schon so lange mit ihr zusammen?

Lutz Kliche: Ich erwähnte ja schon die Seelenverwandtschaft, die ich zu Ruth verspüre. Sie gründet darauf, dass ich viele Dinge, die Ruth bezüglich ihrer Erfahrungen in Afrika beschreibt, in den vielen Jahren ähnlich erlebt und empfunden habe, die ich in Lateinamerika gelebt habe, bei allen Unterschieden. Es ging in jenen Jahren, ich spreche über die 1970er, 1980er Jahre, bei Ruth natürlich lang davor, sowohl in Afrika als auch in Lateinamerika um den Kampf um Befreiung, und soziale Gerechtigkeit, in Afrika als Kampf gegen den Kolonialismus, in Lateinamerika als politische Revolution.


Neue Augsburger Rundschau: Was beeindruckt dich an dieser 100jährigen Frau am meisten?

Lutz Kliche: Ihre große Klarheit und die Selbstverständlichkeit, mit der sie ohne Wenn und Aber dazu aufruft, gegen jede Art von Ungerechtigkeit aufzustehen und Flagge zu zeigen. Das hat Ruth immer getan, mutig und ohne viel Aufhebens darum zu machen. Für Ruth gehört dies zum "Menschsein", so wie es im Judentum gemeint ist und wie es auch Margot Friedländer immer gesagt hat: Seid Menschen!


Neue Augsburger Rundschau: Du machst Lesungen mit diesem Buch. Wie dürfen wir uns das vorstellen?

Lutz Kliche: Wie gesagt, Ruth und ich haben schon unzählige Lesungen in Schulen, Buchhandlungen, Akademien, Bibliotheken und anderen Orten gehalten. Die Zeitzeugin Ruth kann nun mit ihren inzwischen 101 Jahren nicht mehr reisen. Ich habe deshalb, sozusagen als ihr "Zweitzeuge" die Aufgabe, das Zeugnis ihres Lebens und ihre Botschaft von Toleranz weiterzutragen. Toleranz gegenüber allen anders denkenden, anders aussehenden, anders glaubenden, anders lebenden und anders liebenden Menschen. Und ihre Botschaft vom Kampf gegen Ausgrenzung, Diskriminierung und jede Form von Ungerechtigkeit.


Lutz Kliche und Ruth Weiss bei einer Lesung.


Kliche & Weiss

Der Augsburger Literaturvermittler Lutz Kliche, der im Bismarckviertel lebt und arbeitet, ist seit vielen Jahren  mit der deutsch-jüdischen Journalistin Ruth Weiss eng verbunden, die gerade ihren 101. Geburtstag feiern konnte. Ruth Weiss musste 1936 mit ihrer Familie nach Südafrika fliehen. Dort wurde sie Zeugin der Ausgrenzung und Diskriminierung, die sie als Jüdin in Nazideutschland am eigenen Leibe erfahren hatte, als Rassismus der weißen Apartheidsgesellschaft gegenüber allen nicht-weißen Menschen. 

Nun hat sie mit Kliches Unterstützung noch einmal Bilanz ihres Lebens gezogen: Erinnern heißt Handeln - Mein Jahrhundertleben für Demokratie und Menschlichkeit. 

P.S.: Wer Interesse an einer Lesung mit Lutz Kliche zu dem Buch "Erinnern heißt handeln" von Ruth Weiss hat, der schreibt einfach eine E-Mail an: lutz.kliche@lutz-kliche.de

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