Ausbeutung und Wohlstand mit der Bahn


Die Lok steht bei Aufkirch an der verschwundenen Bahnstrecke von
Schongau nach Kaufbeuren.

Die schwäbisch-bayerische Eisenbahn und ihre teilweise dramatische Geschichte

Als die Grund- und Mittelschule noch Volksschule hieß, gab es ab der dritten Klasse das Unterrichtsfach Heimatkunde. Es war eine Mischung aus Geschichte, Geografie, Biologie und Gesellschafts- und Sozialkunde. Ziel und Inhalt des Faches waren die ganzheitliche Wissensvermittlung über das nähere Zuhause der Schüler. Damit die Fakten für die Schüler auch Interesse wecken, benutzten die Lehrer zeitgenössische Hilfsmittel wie Unterrichtsgang oder Schulausflug, auch per Bahn. 

So könnte man das Sachkundebuch "Die Nebenbahnen zwischen Ammersee, Lech und Wertach" von Peter Rasch als ein technisches Heimatkunde-Werk bezeichnen, zumindest wenn man nicht Eisenbahn-Fan ist. Mittels der heute teilweise vergessenen und verlorenen Bahnlinien fährt Rasch mit seinen Lesern durch die industrielle und kulturelle Geschichte Südschwabens sowie des östlichen Oberbayerns. 

In 33 Kapiteln erzählt der Autor anhand des zumindest bis Mitte des 20. Jahrhunderts "fortschrittlichen" Verkehrsmittels Eisenbahn über Leben, Land und Leute. Es sind Ereignisse, die den Leser staunen aber auch erschaudern lassen. Es ist ein faszinierendes Buch, fein und umfangreich bebildert. Nie hat man den Eindruck als Voyeur, etwa beim Beschrieb der Ereignisse an den KZ Gleisen, hineingezogen zu werden. Der Autor bleibt stets sachlich und faktentreu.

Hochbunker in der ehemaligen Sprengstofffabrik.

 
Die Handlungsorte der einzelnen Kapitel reichen von der Ammerseebahn als Weg zum Bade-Ufer für die Augsburger, über die harte Arbeit in den bayerischen Kohlenbergwerken und den Papiermühlen am Lech bis zu den Munitions- und Sprengstofffabriken mit ihren Zwangsarbeiterlagern. 

Man kann die Kapitel gut selektiv lesen, je nach historischer und sachlicher Neigung, insbesondere wenn man nicht an Lokomotiven wie Frieda und Liesl oder an Streckenplänen interessiert ist.

Augsburger Wohlstand durch Kohle aus Peiting 

Wird über Augsburgs Industriegeschichte berichtet, liegt der Fokus auf dem Erfolg der Textil-, Papier- und Maschinenbau-Unternehmen, selten aber auf dem Energieträger, der diesen Erfolg erst ermöglichte. Die Fabriken des 19. und 20. Jahrhunderts benötigten zur Produktion von Baumwollstoffen, Zeitungspapier und Schiffsmotoren enorme Energiemengen, die durch die Wasserkraft der schwäbischen Flüsse nicht gedeckt werden konnten. 

So führt der Autor den Leser in einen Industriezweig, der bei den unter 60-Jährigen nicht mehr gegenwärtig ist, den bayerischen Kohlebergbau um den Hohenpeißenberg. Rasch beschreibt den Abbau der sogenannten Pechkohle (weil so glänzend) unterlegt mit einzigartigen historischen Bildern als harten Job. 

Wurde von der Augsburger Industrie gebraucht.


Die Bergleute, die in bis zu 1000 Meter Tiefe förderten, lieferten zusammen mit den Eisenbahnen den Treibstoff für die Augsburger Fabriken. Schwerindustrie wurde in den Piktogrammen der Schulbücher mit rauchenden Schloten dargestellt, wenn gutes Einkommen für die Arbeiter und Stadtgesellschaft die Prosperität gezeigt werden sollte. Die Augsburger erlangten so "Kohle durch Kohlen". 

Müffelnde Socken und eine schwäbische Weltmarke mit falschem Namen 

Polyester hieß das Zauberwort der chemischen Industrie zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Aus Erdölprodukten endlos gesponnene Garne  wie Nylon, Nyltest, Diolen und Trevira sollten im Wandel der Textilindustrie Naturfasern ersetzen. Die positiven Eigenschaften der Plastikstoffe für Hemden, Unterwäsche und Socken waren neben der Bügelfreiheit vor allem die propagierte Keimfreiheit, weil keine Körperpartikel aufgenommen wurden. 

Nachteilig war, dass die Träger von Kunstseide entweder durch die elektrostatische Aufladung Stromschläge bekamen oder im eigenen Saft (da die Textilien nicht atmungsaktiv waren) schmorten, schlimme Ausdünstungen inbegriffen. 

So ist es zweifelhaft, ob der Werbeslogan der 50er-Jahre, "Trevira tragen bringt Wohlbehagen", wirklich verkaufsfördernd war. Alleiniger erfolgreicher Produzent in der Hoechst-Gruppe war das Trevira-Werk in Bobingen an der Buchloer Bahnstrecke gelegen und mit fast 7 km Werkseisenbahn-Gleisen versehen. Das Werk produzierte zwischen 1954 und 1990 mehr als eine Million Tonnen Trevira. 

Übrigens: der Name Trevira beruht auf einem Missverständnis. Der Werkleiter Ende 1930 wollte sein Polyester-Produkt nach der Stadt Augsburg benennen und dabei einen gebildeten Eindruck hinterlassen. Also wählte er einen lateinischen Namen. Jedoch leider falsch. Augusta Treverorum (Trier) anstatt Augusta Vindelicorum. Richtig heißen müsste es also nicht Trevira, sondern "Vindevira". Doch der Namen Trevira blieb. 

Seiteneingang zu den Produktionsstätten.


Tod und Ausbeutung 

Die Leiter des Trevira-Werkes in Bobingen waren, darauf weist der Autor hin, während des 3. Reiches auch Bestandteil einer verbrecherischen Kumpanei mit den Nazis. Rasch verschweigt nicht die enge Verflechtung des damals zu I.G. Farben gehörenden Werks mit der Hitler'schen Rüstungsindustrie. Am westlichen Rand des Werksgeländes mit seinen dichten Wäldern entstanden zwei Produktionsstätten für Sprengstoffe. 

Tiefbunker mit Entlüftungsrohr.


Der Ort, so der Autor, war besonders geeignet, da das Gelände außerhalb der Bebauung Bobingens lag. Zudem war reichlich Energie aus dem Werk als auch durch die Wasserkraft der nahen Wertach verfügbar, um Hexogen herstellen zu können. Das ist ein heute noch gebräuchlicher giftiger Sprengstoff, der auch aus Salpeter-Säure gewonnen wird. 

Wurde zu Beginn des 2. Weltkrieges die Produktion noch geheim gehalten und nur einheimische Arbeiter beschäftigt, setzte man ab dem Überfall auf die Sowjetunion russische Zwangsarbeiter ein. Die Arbeit war hochgefährlich und ohnehin ausbeuterisch. Fertigungs-Explosionen forderten Todesopfer unter den bis zu 400 Arbeitssklaven. Die Baracken-Unterkünfte beim Werk förderten auszehrende und tödliche Krankheiten. Erst mit dem Einmarsch der Amerikaner endete das Martyrium dieser ausgebeuteten Menschen. 

Werksbahn-Brücke über die Wertach zur Anlieferung der chemischen Vorprodukte.


Noch deutlicher als beim Hoechst-Werk beschreibt Rasch die ebenfalls der Bahn angebundenen Außenlager des KZ Dachau und Kaufering. Bei den Rüstungsprojekten "Ringeltaube", "Walnuss" und "Fasan" in denen Messerschmitt-Flugzeug gebaut werden sollten, starben von 30.000 zur Zwangsarbeit gepressten KZ-Häftlingen zwischen 14.000 und 20.000 Menschen. 

Werksbaracke.


Das Buch spart nicht mit erschütternden Vorgängen um die Nebenbahnen zwischen Lech und Wertach. Andererseits betreibt Rasch soziale Spurensuche. Er verdeutlicht, wie wichtig die Eisenbahn für die Entwicklung sowohl des städtischen als auch des ländlichen Raums war und ist. 

Das Buch ist sachlich geschrieben, untadelig recherchiert und der Autor bleibt glaubwürdig, weil er auch bei kontroversen Sachverhalten nicht wertet. Es ist eine Lektüre mit unterschiedlichen Botschaften getragen von den Schienen der schwäbisch-bayerischen Eisenbahnen. 

Lesenswert! 

Edgar Mathe


Peter Rasch: Die Nebenbahnen zwischen Ammersee, Lech und Wertach / EOS-Verlag St. Ottilien / 396 Seiten / Ausstattung: Hardcover / ISBN978-3-8306-7455-9 / PREIS 39,95 EUR

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