Tod, Rückkehr oder bleiben - Neues Buch über türkische Textil-Arbeiter: "Zurückgespult"

Geburtstagsfeier mit Türkinnen in der ersten eigenen Mietwohnung in Augsburg, um 1970.
(Quelle: Hatice Kara)

 Das neue Buch "Zurückgespult - Arbeit und Alltag von AugsburgerInnen aus der Türkei" zeigt uns das Schicksal der türkischen Gastarbeiter, die ohne Vorbereitung aus ihrer Heimat als billige Arbeitskräfte in die Textil-Fabriken Augsburgs geworfen wurden. Die Textilindustrie gehörte in Augsburg zu den Betrieben, die am schlechtesten ihre Mitarbeiter bezahlte. 

Die Suche nach dem Glück und einem besseren Leben in Augsburg war für die Menschen aus der Türkei auch immer verbunden mit Schmerz, Trennung, dem Verlassen der Heimat und der damit einhergehenden Sehnsucht. Manche Gastarbeiter fühlten sich durch die schlechten Wohnverhältnisse, in die sie kamen, wie Häftlinge in einer Zelle, schreibt Leonie Herrmann. Die deutsche Bevölkerung vermietete nur ungern an die Gastarbeiter. Meist nur alte, sanierungsbedürftige Wohnungen wurden den Gastarbeitern angeboten, die den Reichtum Deutschlands durch ihre oft harte und staubige Arbeit mehrten. Manche Männer mussten ihr Leben durch die Nachtschicht-Arbeit völlig umstellen. 

Am 30.10.1961 unterzeichneten das Auswärtige Amt in Bonn und die türkische Botschaft das "Anwerbeabkommen", das die Entsendung von Arbeitskräften in die Bundesrepublik regelte. Augsburgerinnen und Augsburger aus der Türkei, die einst als "Gastarbeiterinnen" und "Gastarbeiter" in die Industriestadt Augsburg kamen, erinnern indem Buch "Zurückgespult" an die Wege des Ankommens, Hierseins und Dableibens. Viele von ihnen fanden damals Beschäftigung in einer der großen Textilfabriken der Stadt Augsburg. In spannenden Zeitzeugeninterviews bieten sie einzigartige Einblicke in die Lebenswelten als damalige Neu-Augsburgerinnen und Augsburger.

Wobei ich als Autor dieser Buchbesprechung erwähnen muss, dass ich in meiner Zeit als Lehrling zum Industriekaufmann Textil in der Neuen Augsburger Kattunfabrik, dort wo sich heute die City-Galerie und ein Wohngebiet befindet, nur ausländische Arbeiter aus Italiens ärmster Region Calabrien kennenlernte. Die aber auch nur geholt wurden, weil sie billige Arbeitskräfte waren, die in ihrer Heimat noch weniger verdienten und sich mit dem deutschen Geld eine bessere Zukunft in der Heimat aufbauen wollten. 

Einige blieben auch als Rentner in Augsburg. Einen besonderen, Mario, habe ich in den Augsburger Textil-Krimi "Das Geheimnis im Glaspalast" eingebaut, da er mit seiner Tochter auch als artistischer Motorradfahrer aktiv war. Später kam ich durch Ismail, einem Alevit und Computer-Experten, vermehrt mit Türken zusammen. Ismail wurde durch die Methoden seiner Mutter schnell integriert. Er erzählte, dass sie ihm als Kind zur Schule immer Bifi-Würste mitgab, die er in der Pause demonstrativ zu essen hatte, um zu zeigen, dass er auch Schweinefleisch aß, wie ein normaler Deutscher halt. Ismail wird zum Augsburg-Helden in einem Garski-Krimi.

Wir erfahren vom ersten türkischen Restaurant in Augsburg, das den Doppelnamen "Nehir Hecht" trug und immer noch existiert. Hier aß ich meine erste türkische Kuttelsuppe, die erste Hackfleischpizza, den ersten Döner und einen wunderbaren Salat. Wir berichteten 1977 darüber in unserem Monatsmagazin "Lueginsland". Allerdings ist "Nehir Hecht" inzwischen vom Viertel Rechts der Wertach ins Thelottviertel umgezogen.

Drei türkische Freundinnen am Augsburger Königsplatz, um 1973.
(Quelle: Ümmü und Hatice Kara)


Für die ausländischen Erwachsenen wurde das Bürgerhaus "Kresslesmühle" im Augsburger Lechviertel wichtig. Hansi Ruile bot dort mit seinem Altstadtverein und dem Mühle-Team viele Aktivitäten für Ausländer in Augsburg. Positiv traten die türkischen Mitbürger hauptsächlich beim ehemaligen Altstadtfest als Gastronomen an ihren Essens-Ständen in Erscheinung. Aber auch mit ihrer Musik und mit ihren Tänzen. Eine kleinliche Entscheidung der Stadt Augsburg in Sachen Lebensmittelkontrolle, zerstörte leider dieses beliebte Fest. Beliebt sind für die türkischen Jugendlichen die Jugendzentren in Augsburg. Sie waren Freiräume.

Über das Freizeitverhalten der türkischen Gastarbeiter in Augsburg berichten Ina Hagen-Jeske und Yaprak Sen in dem Kapitel "So verging das Wochenende viel zu schnell". Bei den Männern war es vorrangig der Sport und das Café und bei den Frauen das Einkaufen und die Hausarbeit, die die Freizeit dominierten. Durch die TV-Schüsseln waren auch die Fernsehkanäle aus der Türkei präsent und wurden ins Familienprogramm einbezogen. Jedoch wurde von den ersten Gastarbeitern die bezahlte Überstunde favorisiert, denn sie waren ja nicht zum Vergnügen nach Deutschland gekommen, sondern zum Geld verdienen. Davon erzählt auch Yeliz Taskoparan; "Die Arbeit an der Maschine ist hart. Jemand der noch nie an solchen Maschinen gearbeitet hat, kann das nachvollziehen. Das Aufbereiten, Parallelisieren  und Ordnen der Fasern und schließlich das Aufwinden es gesponnen Garns. Wenn Fäden gerissen sind, konnte ich den mitgenommenen Apfel nicht mal essen."

Drei Türkinnen in der Spinnerei und Weberei Pfersee (SWP)
Quelle: Rahide Taskoparan)

 
Erwähnt wird in dem Buch nicht, dass türkische Jugendliche nicht wie wir einfach in Studentenkneipen gehen konnten. Denn nach moslemischen Regeln ist Alkohol verboten. Damit ist ein guter Treffpunkt ausgeschlossen. Die islamische Religion war natürlich ein großer gesellschaftlicher Unterschied. Augsburg ist beherrscht von christlichen, katholischen und evangelischen, Kirchen und Symbolen. Der erste Gebetsort für die türkischen Gastarbeiter mit islamischen Glauben war in einem Keller des Wohnheims der Firma Martini. Davon erzählt Yaprak Sen in ihrem Kapitel "Wir wollen keine Hinterhofmoschee mehr sein." 

Hausordnung (Auszug) im Wohnheim der Gastarbeiter.


Marie-Claire Timmermann und Christiane Lembert-Dobler schildern Lebensgeschichten der Syrer, Aramäer und Suryoye in Augsburg: "Es ist doch meine Heimat und bleibt meine Heimat und wenn ich sie auch nicht sehen kann, dann zumindest in meinen Träumen." Durch ihren christlichen Hintergrund haben diese Bevölkerungsgruppen einen weitaus leichteren Zugang zur Stadtgesellschaft.

Über die politischen Bemühungen der türkischen Mitbürger  unterrichtet uns Sabrina Rintisch: "Für mich war es wichtig, dass ich innerhalb der Stadtverwaltung im Ausländerbeirat für die Rechte der Migranten kämpfte". 

Lisa Wagner sprach mit Necati Mehmet über seine Arbeit in der Augsburger Textilindustrie: "Ich habe 32 Jahre nur Nachtschicht gearbeitet!" 

Erinnerungen an den Schulalltag von türkischen Kindern zeichneten Alexandra Hartmann und Isabella Wlossek auf: "Auf dem Gymnasium immer wieder Diskriminierungserfahrungen erlebt."

Türkischer und italienischer Kicker beim Glaspalast
der Spinnerei und Weberei Augsburg (SWA).
(Quelle: Hikmet Konuk)


Karl Borromäus Murr, Leiter des Augsburger "tim", hält in dem Buch ein Plädoyer für die Pluralität. Tanja Kreutzer und Düzgün Pollat sammelten Erkenntnisse aus dem partizipativem Ausstellungsprojekt: "Ein behutsamer Weg des gegenseitigen Kennen- und Verstehenlernens war daher für eine fruchtbare gemeinsame Arbeit förderlich."

Auf dem Weg in die türkische Heimatstadt.
(Quelle: Orhan Özbeck)


Fazit: Wer sich für die Stadt Augsburg und seine Bevölkerung interessiert, der ist fasziniert von diesem Buch mit den Aussagen der Zeitzeugen, unseren Mitbürgern, die einst aus der Türkei zu uns kamen und blieben. Inzwischen gehören sie zu unserer Stadt und prägen sie mit. Wir sollten uns noch viel mehr mit ihnen unterhalten, mit ihnen arbeiten, feiern und leben. 

Autor: Arno Loeb (Lehre zum Industriekaufmann Textil in der Neuen Augsburger Kattunfabrik von 1966 bis 1969, dann kurz Angestellter mit einem Monatsverdienst von 650,-DM, später Grafiker, Journalist, Musiker, Autor, Herausgeber, Verleger und Werbetexter)



Herrmann, Leonie / Hagen-Jeske, Ina / Kronenbitter, Günther / Şen, Yaprak, Wagner, Lisa (Hg.): Zurückgespult. Arbeit und Alltag von AugsburgerInnen aus der Türkei. München 2021.164 Seiten, Paperback, ISBN 978-3-96233-293-8 € 20,- https://www.allitera-verlag.de/buch/

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