Brecht-Festival: Live-Dialog mit China!

In einer Zoom-Konferenz konnten Moderatoren, Publikum und die Studenten sich live austauschen. In Beijing war es dann 4:00 Uhr nachts!

Als Einführung gab es einen deutsch-chinesischen Dialog. Von links: Kai Tuchmann, der künstlerische Berater der Studenten; Siting Yang, die in einem Film Regie führte und den Dialog übersetzte; Prof. Li Yinang, die das Projekt an der Beijing Academy leitete.


Beiträge aus China beim Brecht-Festival

Das Motto des diesjährigen Brecht-Festivals, Worldwide Brecht, wurde am Freitag Abend in einem Live-Dialog mit China multimedial umgesetzt. Man konnte fünf Filme chinesischer Studenten sehen und sogar live mit ihnen darüber reden.

Die jungen Leute setzen sich durch die verschiedensten Stilmittel mit Brecht auseinander:
Sie zerschneiden ihn …

… verehren ihn …


…und lassen einem Arbeiter ein Gedicht vortragen.


Festivalleiter Jürgen Kuttner stellte die Beteiligten an dem vom Festival initiierten Projekt vor: Li Yinang, Professorin für Neue Dramaturgie und Medienkunst an der Central Academy of Drama in Beijing; Kai Tuchmann, seit 2013 immer wieder als Dramaturg in China und seit 2017 an der Academy mit Schwerpunkten Migration und Interaktion zwischen Körper und Digitalem tätig; und Siting Yang, Dramaturgin und Theaterautorin, die derzeit an der Columbia University in New York tätig ist und sich bravourös durch die Übersetzung des Abends schlug.

Sie ließen eine Glaspuppe agieren …


… ein Star Wars-Intro die Hintergründe eines Films erläutern …


… und stellen Brecht als Schattenfigur dar.


Live aus Beijing zugeschaltet: die Studenten, die sich in fünf Filmen mit Brecht und seiner Relevanz für die heutige chinesische Gesellschaften auseinandergesetzt hatten – und sich nun für den Dialog mit Augsburg die Nacht um die Ohren schlugen (in Beijing war es immerhin zu Beginn der Veranstaltung schon zwei Uhr nachts!).

Die Filme entstanden als pädagogisches Experiment mit 20 Studenten des Bachelor-Jahrgangs 2019 und früheren Absolventen als Moderatoren. Gestartet mit in einem Workshop von Kai Tuchmann, erarbeiteten die Studenten ihre ganz eigenen Sichtweisen auf Brecht; jeweils mit kurzen Brecht-Texten als Basis. Heraus kam ein vielfältiges Panorama der heutigen Brecht-Rezeption mit Blick auf die aktuelle Situation der Arbeiter in China.

V.A.B.E.L - Vom Armen BB Et aL

Im ersten Film setzen die Studenten Brechts Gedicht „Vom Armen B.B.“ (1926-27) mit der heutigen Wirklichkeit von Wanderarbeitern in Shanghai in Bezug. Ein Mensch mit Brecht-Pappmaché-Maske erläutert mit Objekten auf einer China-Karte, wer von wo kommt und wohin geht. Gezeigt werden Interviews mit drei Menschen, zwei Männern und einer Frau, die vom Land nach Shanghai kamen, dort sehr einsam sind und ihre Träume nach und nach zersplittern sehen. Ihre Gesichter werden nie gezeigt, sie sind gesichtslos, und sagen von sich selbst: „Wir sind die Verdammten“. Es gibt Millionen von ihnen in China.


B. solo B.

1951 übersetzte Brecht in Buckow zwölf Gedichte von Bai Juyi (772-846), einem berühmten chinesischen Dichter, der den Niedergang der dekadenten Tang-Dynastie bloßstellte und die Not des Volkes in seinen Gedichten eindringlich darstellte. In dem poetischen Film treffen Brecht und Bai Juyi als Figuren in der alten chinesischen Kunst des Schattentheaters aufeinander und erleben dessen dichterische Anklagen gemeinsam.

Something about Workers

Brechts Gedichte „Fragen eines lesenden Arbeiters“ und „Die Macht der Arbeiter“ setzen die Studenten in Beziehung zu Xu Lizhi, einem früheren Arbeiter am Fließband bei Foxconn, der Gedichte schrieb und im Internet veröffentlichte. 2014 beging er Selbstmord. Beispielhaft zeigen sie den Arbeiter des Paketdienstes an ihrer Akademie und lassen ihn die bitter-intensiven Gedichte Xu Lizhis vortragen. Der Brecht-Statue auf dem Campus zollen sie ihren Respekt. Sie kritisieren, dass man für unabhängige Recherchen nicht in der Bibliothek der Akademie, sondern nur im Internet fündig wird.


Der Blick des Orges

Brechts frühes Gedicht „Orges Wunschliste“ von 1917 stellen die Studenten aus feministischer Sicht mittels einer Glaspuppe dar. Wort-Zuschreibungen mit starken politischen und genderspezifischen Implikationen beziehen sie auf die heutige Gesellschaft. Als „weiß, jung und schwach“ beschreiben Männer in China Frauen, die leicht zu kontrollieren und als sexuelles Werkzeug zu benutzen sind.

In ungewöhnlicher Direktheit sagen sie: „Als wir uns an der Akademie einschrieben, hatten auch wir eine ähnliche Vision wie der 19-jährige Brecht. Wir glaubten fest daran, ein freies und romantisches Leben zu führen und künstlerische Kreationen zu schaffen, die für die Menschen stehen. Nach dem Abschluss des Studiums haben uns der harte und unerbittliche soziale Wettbewerb, die allgegenwärtige geschlechtsspezifische Gewalt und die Sparmaßnahmen sowie die kollektiv-unbewusste Umgebung des politischen Diskurses fast besiegt.“

Fuck Brecht!

Richtig geplagt hat sich die Studentengruppe, denen in ihrer Arbeit manchmal ein „Fuck Brecht!“ herausrutschte. Ihr Film zeigt mit vielen Selbstzweifeln („Can we fuck?“) die alle fünf Jahre wechselnde Rezeption Brechts in China – und mit ihm als Spiegel auch die Veränderungen in ihrem Land. Sie setzen sich erstaunlich offen damit auseinander, wie man „Tabu-Geschichte“ schreiben darf (Mao? Die große Hungersnot?) und reflektieren ihre Analyse, ihre Emotionen und ihre Verwirrung.

Was an den Filmen gleichermaßen bezauberte, waren das Engagement und der Enthusiasmus, mit dem die jungen Menschen da ans Werk gingen, die Ernsthaftigkeit in ihrer historischen und politischen Auseinandersetzung, und die Vielfalt ihrer Ausdrucksmittel.

Nach den Filmen standen die Studenten dem Publikum für Fragen zur Verfügung; hier kamen dann doch ein paar interkulturelle Unterschiede und Verständnisschwierigkeiten zutage. Auf die Frage nach dem Bekanntheitsgrad Brechts in China gaben sie zu, dass er in der breiten Bevölkerung größtenteils unbekannt und unverständlich sei, bei Theaterleuten und Germanisten aber hoch geschätzt. Am eigenen Institut sei Stanislawski mit seinem Naturalismus populärer als Brecht. Peinliches Schweigen herrschte im Augsburger Publikum auf die Frage der Studenten, welche chinesischen Theaterautoren denn hierzulande bekannt seien….


Text und Fotos: Sabine Sirach

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