Von der Zerstörung einer Familien-Idylle

Der blutverschmierte Bruder platzt ins idyllische Candle-Light-Dinner.




Das Theaterstück "Waisen" von Dennis Kelly im Augsburger Sensemble Theater


Im Sensemble Theater ist ein ungemein spannendes Kammerspiel als Wiederaufnahme zu sehen: „Waisen“ von Dennis Kelly. Das Stück ist eine Auseinandersetzung mit den Auslösern von Gewalt und hinterfragt vermeintliche Gewissheiten über unsere moralischen Grundwerte und Zugehörigkeiten.

Die Handlung: In das Candle-Light-Dinner des gut situierten Ehepaars Helen und Danny platzt unvermittelt Helens Bruder Liam, blutverschmiert, atemlos, verstört. Die beiden versuchen aus Liam herauszubekommen, was passiert ist. Während Danny gegenüber seinem Schwager misstrauisch ist und die Polizei rufen will, vertraut Helen ihrem Bruder und rechtfertigt wie schon seit Kindertagen sein Handeln – obwohl er ohnehin schon kein unbeschriebenes Blatt ist. Doch Liam lässt immer mehr durchblicken, wie der vermeintliche Unfall tatsächlich abgelaufen ist – und nach und nach eskalieren alle verschütteten Konflikte zwischen den Dreien. Am Ende ist nichts mehr wie vorher.

Der vielfach ausgezeichnete Dennis Kelly entlarvt in diesem Psychodrama jegliche heile Welt von Familienwerten. Erstaunlich, wie Kelly die äußeren und inneren Konflikte seiner Figuren in solch komprimierter Form thematisiert! Hochkochende Ängste und Verdächtigungen gegen „die da draußen“ in der schlechten Gegend, wo Helen und Danny wohnen, das Alleingelassensein von Helen, wenn ihr Mann mal wieder auf Geschäftsreise in Miami ist, die bräsige Bequemlichkeit von Danny, und die seit Kindertagen brodelnde Gewalttätigkeit von Liam – eine gefährliche Mischung, die an diesem Abend explodiert.

So stehen die Figuren beispielhaft für verschiedene Loyalitäten: Während Helen eisern das Bild einer intakten Familie hochzuhalten versucht, sieht Danny die ganze Menschheit als schützenswert an: „Er ist ein Mensch! ein Araber! ein verletzter Araber!“ schreit er über den heraus, der da blutend draußen auf der Straße liegt (oder nicht?). Liam hingegen hat einen ganz anderen Erfahrungshintergrund: „Da draußen gibt es kein Gesetz!“ Auch die Kindheitskonflikte zwischen Helen und Liam kommen hoch – das war also doch keine so heile Welt zwischen den beiden Waisen.

In der Inszenierung von Jörg Schur ist die ganze Zeit lang eine durchgängige Untermalung mit düsterer elektronischer Hintergrundmusik von Lilijan Waworka zu hören; es werden bewusst keine realistischen Straßengeräusche von „draußen“ eingesetzt. So entsteht eine reduzierte, leicht surreale Sound-Umgebung, die den Fokus auf die Konflikte noch verstärkt. Das Darsteller-Trio Petra Wintersteller als Helen, Heiko Dietz als Danny und Olaf Dröge als Liam agiert sehr konzentriert und spielt die Charaktere mit ihrer drastischen, direkten und schnörkellosen Sprache außerordentlich glaubwürdig.

Schon 2019 hatte das Sensemble-Team das Stück ausgesucht und Jörg Schur mit der Inszenierung begonnen; am 7. März 2020 gab es die Premiere – und dann kam der erste Lockdown. Ein zweiter Anlauf im Oktober 2020 dauerte auch nur sechs Vorstellungen lang bis zum zweiten Lockdown. Letzten Herbst waren sich aber alle einig, dass das Stück noch nicht ausgespielt war, und so gibt es nun erneut sechs Vorstellungen im Sensemble; anschließend wird „Waisen“ dann noch einige Male in München aufgeführt.

Trotz der Unterbrechungen konnte die Inszenierung wieder gut aufgegriffen werden. Jörg Schur erzählt, dass das Team noch einige Verbesserungen und neue Aspekte mit eingebracht hat. Für ihn ist das Interessante an dem Stück die Frage: zu wem halte ich und welche Werte verrate ich dadurch? Es ist eine Auseinandersetzung mit Gewalt und dem „Wir-gegen-die-anderen“. Die Konflikte bleiben am Ende offen.

Das Stück ist spannend bis zum letzten Satz; mal stockt dem Zuschauer der Atem ob der Gewalt, mal entlockt der Sarkasmus des Textes dem Publikum verblüffte Lacher. Am Ende ist allgemeines Durchatmen zu hören – und beim Hinausgehen fragen sich so manche, wie sie wohl selbst handeln würden …?


Text und Foto: Sabine Sirach

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