Haltlose Spaßbelagerer mit angestochenem Gehampel

Vor der Lesung: Häppchen, Sekt und gute Stimmung auf der Abraxas-Terrasse.


Anarchie, Musik und gute Laune beim Ventil Verlag-Festival im Abraxas

Das 20jährige Jubiläum des Mainzer Ventil Verlags sollte im Abraxas gebührend gefeiert werden – schließlich leben so manche Autoren des Verlags in Augsburg. Der Verlag gibt vegane Kochbücher, Sachbücher zur Popmusik und Punk heraus, aber auch Belletristik und Comics mit musikaffinen Themen. Auf dem zweitägigen Mini-Festival wurden mehrere Bücher präsentiert, eine Ausstellung eröffnet, Musik gespielt und viel gelacht.

„Kritik am Mitmensch“ – Vernissage mit Illustrationen von Lisbert mit Lesung von Ferdinand Führer & Roland van Oystern

Den Auftakt machte ein Empfang mit Sekt und Häppchen auf der Abraxas-Terrasse, und schließlich geleitete „Schmali“ (Florian Schmaler) mit seinem Saxofon die Gäste in den Ballettsaal zum Höhepunkt des Abends. Roland van Oystern (Augsburg) und Ferdinand Führer (Stuttgart) lasen aus ihrem Buch „Kritik am Mitmensch“ mit Illustrationen der Künstlerin Lisbert (ebenfalls Stuttgart). Die treffend-witzigen Illustrationen samt Vorstudien sind in der Ausstellung im Original zu sehen und auch zu erwerben.


Lesung aus der „Kritik am Mitmensch“: Wenn der eine liest, amüsiert sich der andere auch (li. Ferdinand Führer, re. Roland van Oystern).


Die „Kritik am Mitmensch“ ist politisch völlig unkorrekt und – wie an den Reaktionen des Publikums zu merken – mit ihrem anarchischen Humor zum Schreien komisch. Die Glossen, zunächst in „Titanic“ veröffentlicht, nehmen ungeliebte Mitmenschen wie den Bahn-Telefonierer, den Hundebesitzer, das schreiende Kind, den stets superkorrekten Streber oder den Festival-Altrocker aufs Korn. Mit rotem Leineneinband und goldener Titelschrif erinnert die Aufmachung des Buches an die beliebten kleinen Bände, die man jedem gerne schenkt, aber Vorsicht mit diesem Exemplar: Man kann damit nämlich seinen „Bekanntenkreis aktiv umgestalten“! Nicht dass es aus Versehen einen „haltlosen Spaßbelagerer“ trifft, oder die mit diesem „angestochenen Gehampel zu jeder Begrüßung“ oder jene „Konventionsgesteuerten“, die mit der Kindstaufe kirchliche „vernunftzerbröselnde Traditionen“ fortführen. Man kennt all diese Typen selber, hat sie aber selten so schön böse beschrieben bekommen. Zusätzlich zu den Auszügen aus dem Buch gab es schließlich ein Zuckerstückchen über den „Hass im Spaßbad“ (nämlich dem Titania in Neusäß) mit seinem „Pandämonium in den Saunen“ und zum Schluss, ganz tagesaktuell und wieder aus Titanic, die entbehrlichsten Städte Deutschlands, die die Russen ruhig auch wegbomben könnten – darunter auch Augsburg, das Jahrhunderte nach seiner großen Zeit nur noch peinlich sei.

So witzig und anarchisch wie die Texte: Lisberts Illustrationen zur „Kritik am Mitmensch“ (der Bahntelefonierer, der Streberaffe, der Status-Quo-Orientierte und der Begrüßungs-Überschwang).

Die Ausstellung der Originalillustrationen zum Buch von der Künstlerin Lisbert ist noch bis zum 31. Juli 2022 im Ballettsaal des Abraxas zu sehen.

"Damaged Goods" und "Schnulzenroman" – Lesung von Gerald Fiebig und Daniel Borgeldt

Am zweiten Abend lasen wieder zwei Ventil Verlag-Autoren. Gerald Fiebig, der das ganze Festival organisiert hatte, gab einen Einblick in seine musiktheoretischen Einträge im Sammelband „Damaged Goods – 150 Einträge in die Punkgeschichte“. Er las seinen Beitrag über die Adverts mit ihrem 1978er Album „Crossing the Red Sea“. Darin betont er, „dass Punk eine ästhetische Haltung ist, die sich in den unterschiedlichsten musikalischen Formenwelten manifestieren kann“.

Bei den anstrengenden Hörbeispielen zu seinem „Schnulzenroman“ muss Daniel Borgeldt
selber schmunzeln.
 
Gerald Fiebig signiert „Damaged Goods”, darin auch seine Beiträge.


Das „Sprengstoff“-Bier, das es im Abraxas gab, hatte Gerald Fiebig als Sonderedition mit sechs verschiedenen Texten versehen. „Aus dem Lokalteil“ war zu lesen, dass im Augsburger Klimacamp Sprengstoff gefunden worden sei, obwohl dessen Besetzer doch stets ihre Alkoholfreiheit betonten. Gemeint war allerdings auch hier ein Bierkasten mit Sprengstoff-Bier! Aus seinem Gedichtband „Motörhead Klopstöck“ las der Lyriker Fiebig dann noch seine Hommage ans Radio: „Wir wollen Luftwellen!“, bevor er zum musikalischen Romanteil des Abends überleitete.

Sommerabendliche Saxofonklänge von Schmali.


Daniel Borgeldt aus Mainz hat mit "Schnulzenroman – Die Autobiografie des Heinrich Fraunhofer aka Danny Silver" einen Pop-Roman über Schlager, Zwölftonmusik und Punk geschrieben Der Titelheld des Romans, ein abgehalfterter Schlagerstar, ist 2017 in einer psychosomatischen Klinik gelandet und soll aus therapeutischen Gründen seine Lebenserinnerungen aufschreiben. Eigentlich wollte er ein ernsthafter Musiker der avantgardistischen Seriellen Musik werden, aus Protest gegen den Nazi-Kitsch seines Vaters, der in der NS-Zeit ein populärer Schauspieler war. Doch dann wechselt er, animiert von einem Schlagerproduzenten, zu der „Musik, die die Deutschen verdienen“ – und macht Schlager, um „die Deutschen für den Nationalsozialismus zu bestrafen“. Der Autor, selbst Jahrgang 1982 und damit eine Generation später als sein Romanheld, hat in dem Buch auch seine eigene Sozialisation verarbeitet: Die Großeltern hörten in den 60er/70er Jahren seichte Schlager, die der kollektiven Verdrängung des Nationalsozialismus dienten.

Die drei Künstler Roland van Oystern, Ferdinand Führer und Lisbert (v.li.).


Der Roman gibt so einiges an Musiktheorie wieder (so wird insbesondere das Trautonium, der Vorläufer des Synthesizers, samt seinem Erfinder geschildert), ist aber laut Borgeldt „musikwissenschaftlich wasserdicht“, weil von einem Profi gecheckt. Er hatte drei Musikbeispiele mitgebracht: einen Schlager („allein die Stimme ist schon MeToo – aber da müssen wir jetzt alle durch“), ein Stück serielle Musik, „Structure“ von Pierre Boulez („auch da müssen wir jetzt durch“), das er dann aber abbrach; und zum Schluss „Here´s to you“ von Joan Baez – da ließ er die Zuhörer allerdings mit der Frage in der Luft hängen: „Ist das jetzt Kitsch oder nicht?“

Für Daniel Borgeldts Lesung, die den Kontinuitäten und Brüchen zwischen NS-Regime und Bundesrepublik nachgeht, ist in Augsburg kaum ein besserer Ort denkbar als das Kulturhaus Abraxas: Das Gebäude wurde als NS-Offiziersheim errichtet und dann von 1945 bis 1994 von der US-Armee als „Bavarian Crossroads Club“ genutzt. So war es für viele Augsburger:innen Teil ihrer musikalisch-kulturellen Re-Education, zunächst durch erste Kontakte zur Jazzmusik, später aber auch als Auftrittsort lokaler (Rock-) Bands.



Text und Fotos: Sabine Sirach










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