Themen wie Angst, Neid und Depression ansprechen

Zusammenhalt – das Motto des Augsburger Friedensfestes 2022.


Zusammenhalt in vielen Facetten: 
Die Lange Nacht im Sensemble


Was bedeutet Zusammenhalt in der Gesellschaft und in den Künsten? Dieser Frage gingen drei Tage lang bekannte Schriftsteller*innen und Dramatiker*innen in Gesprächsrunden und Lesungen nach; in der „Langen Nacht der Augsburger Gespräche“ auch öffentlich und zwei Stunden lang von Bayern 2 live übertragen. Die „Augsburger Gespräche über Literatur – Theater – Engagement“ fanden nun zum fünften Mal im Sensemble statt.

Veranstaltet werden die Gespräche vom Friedensbüro und dem Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literatur der Uni Augsburg, Gastgeber ist das Team vom Sensemble – und am Ende ist die Leiterin Anne Schuester zufrieden: „Wir möchten ja immer die Grundlage für Gespräche legen – mit dem heutigen Abend ist uns das nun wieder gelungen.“

Katja Schild vom Bayerischen Rundfunk las die Texte der Autoren.


Ein wegen der Radio-Übertragung sehr stilles Publikum lauschte drei Gesprächsrunden, moderiert von Niels Beintker vom BR und musikalisch aufgelockert durch Rainer von Vielen.

Neue Dringlichkeit für gesellschaftlichen Zusammenhalt

Olga Grjasnowa fordert in der Diskussion mit Katja Petrowskaja einen globalen Zusammenhalt und gerechte Hilfe für Ukraine und Flüchtlinge. Die oft zitierten „europäischen Werte“ seien eben nicht universell; Zusammenhalt werde stets als „wir gegen die anderen“ gesehen; wünschenswert wäre aber ein Zusammenhalt ohne Feindbilder. Petrowskaja erinnert an alle vorherigen Kriege, die Putin bereits begonnen habe: Tschetschenien, Berg-Karabach und einige frühere sowjetische Regionen mehr. „Putin wird weiter töten!“

Wie schon vor dem 2. Weltkrieg sei der Diktator zu lang ignoriert worden, weil es halt sehr bequem war. Menschenrechte hätten zu lange gegen bourgeoisen Komfort gestanden, meint Grjasnowa. Der russische Imperialismus sei immer noch sehr stark; wenn die Ukraine den Krieg nicht gewinnen würde, ginge es im post-sowjetischen Raum noch lang so weiter.

Im Gespräch: (v.links) Niels Beintker (BR), Olga Grjasnowa, Katja Petrowskaja.


Kein Zusammenhalt im Theater

Die nächste Gesprächsrunde begann mit einem berührenden Text von Theresia Walser, wie die anderen Texte gelesen von Katja Schild vom BR. Die Sicht einer Geschichtslehrerin auf den schüchternen Jungen in der Schulklasse schlug das Thema des Zusammenhalts im Alltag an. Salome Dastmalchi, Theater-Regisseurin aus Berlin, die sich in ihrer Arbeit unter anderem mit Teenager-Schwangerschaften auseinandergesetzt hat, beobachtet, dass „Zusammenhalt entsteht, wenn man ein Thema gemeinsam hat“. Dagegen habe das Theater meist nichts mit Zusammenhalt zu tun – Hierarchien, besonders die „Alleinherrschaft der Intendanz“ verhindere das. Dabei sei es doch wünschenswert, das Theater wie jeden Betrieb als geschützten Raum zu behandeln. 

Ganz einig darin war Theresia Walser; im Theater gebe es Fürstentümer, und es ziehe weitere Fürsten an. Der Moderator sah hier „ein neues Theaterkollektiv“ entstehen, das diesen Missständen entgegen wirken könne. Walser erzählte von dem US-amerikanischen Theaterprojekt „The Jar“, das eine Durchmischung des Publikums praktiziere und eben nicht, wie so oft, von oben herab erziehen wolle. Thomas Köck, dem Dritten in der Diskussionsrunde, ist es besonders wichtig, die Jugend im Theater anzusprechen, er nennt das den „Blick aus der Zukunft auf heute“. Einig waren sich die drei, dass es im Theater „sehr laut knallen“ dürfe; Dastmalchi will lautstark Themen wie Angst, Neid und Depression ansprechen; Köck will es konfrontativ und Walser meint, man dürfe „einen Schrecken vor sich selber kriegen“.

Salome Dastmalchi, Theresia Walser und Thomas Köck tauschen sich über den Zusammenhalt im Theater aus.


Nora Bossong: Literatur darf zweifeln!

Die dritte Gesprächsrunde, mit Nora Bossong und Markus Ostermair, begann mit einer Lesung aus Ostermairs Roman „Der Sandler“ über einen Obdachlosen. Schon 2020 erschienen, ist er doch sehr aktuell in seiner Darstellung von Dürre und Preissteigerungen – und endet mit der Aussage „man kann die Obdachlosen nicht zur Masse formen“.

Ausdrucksstarke Musik und Liedtexte: Rainer von Vielen und sein Gitarrist Michael Schönmetzer.


Die Diskussion nahm das Thema Ukraine-Krieg wieder auf und wurde schnell heftig. Man kehre allzu schnell zur Normalität zurück; auf Ostermairs Aussagen über die Politik entgegnete Bossong scharf, dass „die Politik“ zu sehr über einen Kamm geschoren werde – als würden Politiker sich nicht auch selbst reflektieren! Eine Umorientierung nach Jahren falscher Politik sei nötig – Ostermair: „Das ist ja wohl das Mindeste!“, gefolgt von Lachern im Publikum. Bossong betont, sie hätte die Hoffnung schon fast verloren gehabt, setze aber immer noch auf das Prinzip Hoffnung: „Wir dürfen uns den Optimismus nicht nehmen lassen!“ In ihrem Text aus „Auch morgen“ betont sie, dass Literatur nicht nur von „rechten/richtigen“ Menschen erzählen dürfe, sondern vom Menschen an sich – sie dürfe zeigen, zweifeln, ja verzweifeln!

Nora Bossong und Markus Ostermair über Literatur und Politik.


Musikalische Highlights mit Rainer von Vielen

Rainer Hartmann – Künstlername Rainer von Vielen – aus Kempten bot zwischen den Gesprächsrunden und dann als Zusatz-Konzert nach der Veranstaltung musikalische Leckerbissen: Die Liedtexte von einer Brecht-Hommage bis zum makabren Sauflied der Wandergesellen, untermalt vom Akkordeon und der Gitarre von Michael Schönmetzer – sehr beeindruckend aber die Stimme mit einer seltenen Kombination aus mongolischem Kehlkopf- und Obertongesang. Besonders sein Lied „Wenn die Welt untergeht“ über das Ende der Menschheit gab der Veranstaltung einen bangen Unterton.

Nach der Veranstaltung gab´s ein Zusatzkonzert von Rainer von Vielen.



Text und Fotos: Sabine Sirach

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