Die Idylle trügt - Letzter Aufstand der Augsburger Textilarbeiterschaft

Sortierung der Schafwolle in der Augsburger Kammgarnspinnerei im Jahre 1929.




Der martialische Arbeitskampf um Augsburgs letzte Textilfabrik


Besonders an Sonnentagen wirkt das neue Textilviertel frisch. Revitalisierte Industriebauten, überzeugende Wohnungsbauarchitektur und einladende Grünanlagen bestimmen das Areal zwischen Provino-, Prinz- und Schäfflerbachstraße. Hier haben Investoren und Stadt Augsburg ein ansehnliches Quartier entwickelt. Dicht bebaut als Ausdruck einer großstädtischen Urbanität ergibt es dennoch keine soziale Enge. Die Bürger haben einen lebenswerten Stadtraum gewonnen.


Leider ist vergessen, daß zu Beginn der 2000er-Jahre 300 Männer und Frauen der Augsburger Kammgarnfabrik (AKS) und deren Familien ihre berufliche Existenz an dieser Stelle verloren haben. Keine Erinnerungstafel am Textilmuseum (TIM) oder anderswo in Augsburg weist auf den letzten Opfergang im Drama um Investoren-Gier, Marktveränderung und gewerkschaftlichen Widerstand hin. Letztlich war der nicht verhinderte Konkurs der AKS das Fundament für die ertragreiche Zukunft des Quartiers.

Restliche Gebäude der Augsburger Kammgarn Spinnerei (AKS).

Shedhallen der AKS, die jetzt noch stehen.



Was fällt, soll man auch noch stoßen ...


... dieses Motto nach Friedrich Nietzsche war Handlungsmaxime vieler Investoren in den 70er-Jahren beim Erwerb von sog. Altmanufakturen. Nachdem erkennbar war, daß die deutsche Textilindustrie mit ihren hohen, aber angemessenen Personalkosten nicht mehr am Weltmarkt bestehen kann, suchten die Kapitaleigner nicht nach Sanierungskonzepten, sondern schlachteten die Unternehmen aus. Beliebt waren „faule“ Ringkredite in den Holdings (der Kräftigste muss den Schwächsten finanzieren) oder Herauslösen der großen Immobilienbestände, die dann zu hohen Mieten wieder dem Betrieb überlassen oder an Bauträger weiterverkauft wurden.


„So treten wir nicht ab“


Als der Betriebsratsvorsitzende der AKS. Werner Schlosser. Ende der 1990er die Insolvenz- und Zerschlagungsgefahr für das Unternehmen sah und damit auch das Ende der 200-jährigen Textilindustrie in Augsburg, forcierte er zwei Ideen. Erstens retten, was bei der AKS zu retten ist und zweitens, ein Vermächtnis der Textiler, einen Museumsort.



Letzteres ist mit dem TIM entstanden, bei Ersterem ist er gescheitert. Die Gesetze des Kapitalmarktes und die Arroganz der Unternehmenseigner gegenüber den 300 Mitarbeitern vermochten weder er noch die IG Metall, die die Textilgewerkschaft aufgenommen hat, auszuhebeln.


Mobbing, unwürdige Arbeitsverhältnisse und Lohndumping


Karl Heinz Schneider, damals Bevollmächtigter der IG Metall und Vorstand des DGB Bezirkes Schwaben erinnert sich: „Ich wurde im September 2001 erstmals zur Betriebsversammlung in die AKS geladen. Die Mitarbeiter berichteten von verpflichtender unbezahlter Mehrarbeit, Kündigungsdrohungen, Einschüchterung und weiteren Lohnkürzungen, obgleich sie schon große Opfer, etwa Verzichte auf Tarifverträge oder der Verlust der betrieblichen Altersversorgung, gebracht hatten.“

Am unerträglichsten fanden, so Schneider, die Mitarbeiter das respektlose Auftreten des damaligen Mehrheitsaktionär und Betriebsleiters Ulrich Kikillus. Er presste die Textiler mit Worten, Gesten und Verhalten zu immer höherer Arbeitsleistung, mit dem Hinweis „sonst gehen wir alle unter“. Für ihn waren die Menschen nur Mehrwertfaktoren.



Schneider versuchte in einem klärenden Gespräch Abhilfe zu erreichen. Das schlug fehl. In der nächsten Betriebsversammlung in der Schlachthofgaststätte explodierte die Stimmung. Die Textiler mussten feststellen, daß der Betriebsleiter Kikillus noch während der Tarifverhandlungsfrist Spinn- und Zwirnmaschinen abbauen und ins Ausland transportieren ließ.


Streikgrund: Arbeiterwürde versus Unternehmergewinn


Die Mitarbeiter wollten die fehlende soziale Kompetenz und die Arroganz des Betriebsleiters nicht mehr hinnehmen. Sie strebten heraus aus der Position eines ständig duldenden „Hiob“. So war die Forderung im Streikaufruf: Wiederherstellung der Würde der Arbeitnehmer, Anerkennung der Leidens- und Leistungsbereitschaft aller Männer und Frauen im Betrieb.

Noch nie in seinem Berufsleben, berichtet Karl Heinz Schneider, erlebte er eine Streikakzeptanz in der Urabstimmung von 98% der abgegebenen Stimmen. Sofort, so forderten die Mitarbeiter, nach der Betriebsversammlung im Oktober 2001, solle der Streik beginnen. Die Emotionen schlugen hoch. Eine Vielzahl der im Betrieb vertretenen Ethnien, damals vor allem Italiener, Jugoslawen uund Türken wollten unmittelbar „losschlagen“.

Eine ordnende Hand und ein kühler Kopf waren notwendig. Nicht so einfach, erzählt Schneider, wenn Langmut und Duldsamkeit von der Arbeitgeberseite ständig aufgezehrt wurden. Zudem mahnte auch noch die IG Metall Zentrale in Frankfurt a. M. aufgrund einer wackeligen Streikgeldzusage die Textiler zur Geduld. Vergebens, Schneider musste mit einem quasi ungedeckten Scheck in den Streik gehen. Noch heute, so berichtet er schmunzelnd, ist er über seine Risikobereitschaft erstaunt. Die Streikgeldzusage, das Überlebenselixier der Textiler, kam noch rechtzeitig.

Ehemaliges Streiktor der AKS.
 


Streik im bitterkalten und nassen November 2001


Am nächsten Morgen zur Frühschicht um 5Uhr begann der Streik. Zuvor richteten die Textiler ein Streikbüro ein, organisierten die Versorgung mit Lebensmittel, registrierten die Kollegen zur Streikgeldberechtigung und entzündeten das zehn Tage brennende Streikfeuer in Fässern. Es gab keinen einzigen Streikbrecher, sagte Schneider, der wie ein gewerkschaftlicher Karajan die Aktionen dirigierte, unterstützt von in der Belegschaft respektierten Kollegen/innen aus dem Betriebsrat. Nach einigen Tagen erfuhr Schneider, daß Betriebsleiter Kikillus versuchte über persönliche Ansprache Streikbrecher aus der Färberei zu rekrutieren, da die angeblich von den Rettungsmaßnahmen nicht unmittelbar betroffen waren. Dazu bediente er sich der ihm vertrauten Methoden des „rettet den Betrieb bis zum Verlust des Arbeitsplatzes“. Sie sollten, begleitet von ihm, an den Streikenden vorbei am Haupttor an der Schäfflerbachstraße ins Werk gehen. Betriebsrat und Gewerkschaft ließen keinen Streikbrecher in die Fabrik.


Ein lederner Friedensstifter


Nachdem lange Zeit nicht klar war an welcher Stelle Kikillus ins Werk wollte, mussten die Streikposten in „löcheriger Kette“ um das gesamte ca. 10ha große Werk aufgestellt werden. Bei nur 300 Streikposten, wenn das auch die gesamte Belegschaft war, ein schwieriges Unterfangen. Unklar war ob man den auch den Betriebsinhaber, der ja kein Streikbrecher war, vom Betreten des Werks abhalten darf. Eine Mitarbeiterin aus dem Kosovo, die Bürgerkriegserfahrung im zerfallenen Jugoslawien hatte, sagte zu Karl Heinz Schneider: „Den Kikillus überlasse mir !“,hob den Mantel hoch, zeigte auf Ihre Schaftstiefel in dem ein längerer Leder ummantelter „Friedensstifter“ steckte. Das war der Konfrontation zu viel, wenigstens aus Sicht der Gewerkschaft. Die Eingangssicherung übernahm - unbewaffnet - Karl Heinz Schneider. Trotzdem gelangte Kikillus aufgrund einer Einstweiligen Verfügung des Arbeitsgerichts Augsburg in die Fabrik. Nachdem er den Mitarbeitern der Färberei erzählte, sie seien von eventuellen Betriebseinstellungen nicht betroffen, mussten die Streikenden einen Korridor vor dem Werkstor freilassen, um die arbeitswilligen Arbeiter durchzulassen.

(Nur zwei Jahre später wurde auch die Färberei geschlossen).

Links die Neubausiedlung auf dem Gelände der ehemaligen AKS.



Auftritt der Ordnungskräfte


Weniger zimperlich ging die Werkleitung mit den Streikenden um. Kikillus erreichte über staatsanwaltschaftliche Drohungen und Nötigungsvorwürfe die nach seiner Meinung die Gewerkschaft zu vertreten hatte, daß der damalige stellvertretende Polizeidirektor Walter Böhm in zwei Mannschaftswagen mit 15 jungen Polizisten am Werktor aufmarschierte. Die Polizei sollte den bestreikten Zugang gewaltsam öffnen. Das Gerangel begann, hier die gut ausgebildeten Polizisten, da die Streikenden hoch motiviert, aber in Taktik und Strategie unerfahren. Karl Heinz Schneider hatte in Erwartung der Räumung nächtlich Unterhak- und Widerstandsketten üben lassen, passiver Widerstand aktiv vorgetragen. Vorne die Männer, hinten die Frauen, die Streikenden hielten dem Druck der Polizeikräfte stand.

Mehr Gewalt wollte der stellvertretende Polizeidirektor nicht ausüben. Seine Angemessenheits-Entscheidung verdient auch heute noch Respekt. Herr Böhm war vor seiner Polizeikarriere Textilkaufmann.

Derart von der Augsburger Polizei enttäuscht, forderte Kikillus den Einsatz der bayerischen Bereitschaftspolizei, die aber nicht ausrückte.


Konkurs: Kikillus letzter Trumpf


Zwischenzeitlich wurde verhandelt. Eine Einigung konnte nicht erzielt werden, so meldete Kikillus noch im November 2001 Konkurs der gesamten AKS an. Das Vermögen und die Geschäftsführung gingen auf den Konkursverwalter über. Mitarbeiter und Gewerkschaften trafen mit dem Konkursverwalter eine Vereinbarung, die inhaltlich weit über das hinausging, was Kikillus angeboten hatte. Ihre Arbeitsplätze konnten sie nicht sichern, deren Verlust war nicht durch den Streik begründet, sondern letztlich Ergebnis der Weltmarktentwicklung und des unternehmerischen Entscheidungswillen.

Karl Heinz Schneider, Bevollmächtigter der IGMetall in 2001.
 

Für Karl Heinz Schneider barg dieser letzte große Arbeitskampf in der Augsburger Textilindustrie die Botschaft: Es gibt sie noch, die wehrhaften Arbeitnehmer. Durch ihre Aktion haben sie auch wirtschaftlich mehr erreicht, als eine ständig sich unterordnende und devote Haltung verspricht.

Für den neutralen Betrachter bleibt die Frage, ob man tatsächlich im Kleinen erfolgreich sein will, wenn man weiß, daß man im Großen scheitert. In jedem Fall erscheint ein Spaziergang im Textilviertel in einem anderen Licht.


Edgar Mathe


Dieser Artikel erscheint in der Serie : Andere Augsburger Orte, Teil 12


Textquellen: Interview mit Karl Heinz Schneider, Augsburg, Streikprotokoll der IG Metall, Augsburg


Bilder: Stadtarchiv Augsburg, Autor,


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