Nobler geistiger Dämmerschlaf benebelte nur wenige Frauen

Das Buch zur Augsburger Ausstellung.
Ingvild Richardson (Hrsg.), Volk Verlag München 2022.



Wohlstand oben – Armut unten
Die Bilder des ersten Frauenfotoatelier in Augsburg
oder: Armut verkauft sich nicht



Im Grafischen Kabinett in der Augsburger Maximilianstraße 48 im Höhmannhaus ist noch bis zum 25. September 2022 eine Ausstellung über das Wirken der sog. Modernen Frauen gegen Ende des 19.Jahrhunderts zu sehen. Die Werkschau befasst sich mit dem Einfluss von Anita Augspurg (kein Schreibfehler!), ihrer Lebensabschnittsgefährtin Sophia Gouldstikker und ihrer Schwester Mathilde auf die Gleichstellung der Frauen in Gesellschaft, Bildung und Beruf.


Suffragetten, Emanzen und Lesben

Die erstgenannten, beide aus gutbürgerlichen Verhältnissen widmeten ihr berufliches Leben dem Kampf um die Frauenrechte gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Bayern und in Deutschland. Weder gab es ein allgemeines Frauenwahlrecht (eingeführt in 1918) und trotz des 1896 verabschiedeten Bürgerlichen Gesetzbuches waren die Rechte der Frauen extrem beschnitten. So verloren nach der Eheschließung alle Frauen die Verfügungsgewalt über ihr vor der Heirat besessenes Vermögen. Es sei denn, Gütertrennung war vereinbart. Auch Gewerbe- und Bildungszugänge waren für Frauen beschränkt. Aufklärung, Agitation und Mut zur gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung zeichnete diese Frauen aus.

Beide Frauen, denen die Ausstellung gewidmet ist, Anita Augsburg und Sophia Gouldstikker waren rechtskundig, Anita sogar die erste promovierte Juristin in Deutschland. Sophia leitete lange Jahre die Rechtsschutzstelle für Frauen in München. Mit ihren Auftritten im Bund deutscher Frauenvereine sorgten sie erstmals für ein Bewusstsein um die Gleichberechtigung.


Begleitband zur Ausstellung

Gleichzeitig zur Ausstellung ist ein bebildertes Buch (Die modernen Frauen des Atelier Elvira München und Augsburg 1887-1908, Volk Verlag München) erschienen. In acht umfangreichen Beiträgen lässt die Herausgeberin Dr. Ingvild Richardson die Augspurg und die Gouldstikkers in ihrem Kampf um die Frauenrechte beschreiben. Alle Autoren (Christoph Sauter, Daniel Karrasch, Joel C. Cahen, Graham Dry, Helene Falk, Waldemar Fromm, Gregor Nagler und Andreas Strobl) sind bekannte und angesehene Wissenschaftler, so daß das Buch frei von modischem Gendergedöns ist. Dennoch nötigt das fast von Besessenheit getriebene Engagement der Frauen auch dem „letzten Macho“ hohen Respekt ab.

Anita Augspurg.

Sophia Gouldstikker.

Mathilde Goudstikker.


Fotografieren als Lebensgrundlage für den Geschlechterkampf

Besonders für die freie Erwerbstätigkeit der Frauen kämpften Augspurg und Gouldstikker. Wirtschaftliche Unabhängigkeit durch Bildung war das Ziel der emanzipatorischen Frauenbewegung. Teilhabe am gesellschaftlichen Leben geht nur über wirtschaftlichen Erfolg, will man/frau sich nicht im höheren Töchterdasein zu Tode langweilen. Daß dieser noble geistige Dämmerschlaf nur wenige Frauen benebelte, stand nicht so sehr im Fokus der Emanzipationsbetrachtungen. Dazu später mehr. Zunächst eröffneten Anita Augspurg und Sophia Goldstikker, nach erfolgreicher Ausbildung zu Malerinnen, ein Fotoatelier in München. Rasant, weil ebenfalls aus der Bourgeoisie abstammend und dadurch mit deren Eitelkeiten vertraut, erlangten sie das Interesse der besseren Gesellschaft. 

Fotos, damals wie heute Inszenierungen der Selbstdarstellung waren/sind das Objekt der Begierde. Anita und Sophia fotografierten mit Geschick viele Noblige, Adelige und Bürgerliche. So brachten sie es zu königlichen Hoffotografinnen. Ein Alleinstellungsmerkmal mit großer Breitenwirkung. Ungeachtet des guten wirtschaftlichen Ertrags konnten die beiden so ihr Streben nach Gleichheit und Gerechtigkeit für die Frauen in Vorträgen und Schriften umsetzen.


Augsburg, Ludwigstraße 22

Augsburg, die proletarische Industriestadt westlich von München leistete sich zur Muse der Textilbarone, Bankiers und des Stadtadels ein neues Stadttheater. Anita und nun auch die jüngere Schwester von Sophia, Mathilde Gouldstikker eröffneten eine Filiale ihres Münchner Fotoatelier in der Ludwigstraße 22 zwischen Dom und Theater. Denn Schauspieler, Sänger und Musiker beiderlei Geschlechts ließen sich gern ablichten und das Sammeln von solchen Fotos war beliebt.

Daniel Karrasch und Christoph Sauter beschreiben im Ausstellungsbegleitband glaubhaft mit Fakten hinterlegt, die Zeit der Gouldstikkers (Anita Augspurg war aufgrund ihres Jurastudiums in der Schweiz nur wenige Monate Partner in der Filiale) zwischen 1891 und 1896 in Augsburg. Das Atelier „lief“, die bürgerlichen Kunden kamen zuhauf, so die Autoren. Fürst Fugger, Geheimrat Hessing und Kapellmeister Mottl waren auf den Glasplatten zu sehen und sorgten für Umsatz.

Die Ludwigstraße, zum höchsten Punkt (Hl.Kreuz Kirche) der Stadt führend, zwischen Kreuz-, Domviertel und Innenstadt gelegen, war damals eine gute Adresse. Feinkostläden, Antiquitäten-, Rauchwaren- oder Musikalienläden säumten die Straße hinunter zur Grottenau. Die Fotografinnen wollten an einer Hauswand einen Schaukasten mit Ihren Arbeiten auch in der Nähe zum Königsplatz anbringen, doch das Gesuch wurde in „Geheimer Sitzung“ des Magistrats abgelehnt (Sportkind lässt grüßen!).


„Hoho! Augsburg – großartig naiv“

So ganz schien das Atelier bei Augsburgs Boheme dennoch nicht angekommen sein. Als Mathilde Gouldstikker versuchte den Fürsten Otto von Bismarck, obgleich politisch abgehalftert, zu porträtieren, erhielt sie eine empfindliche Abfuhr. Bismarck war zur Einweihung des gleichnamigen Viertels, finanziert aus französischen Reparationszahlungen nach dem verlorenen Krieg von 1870, in Augsburg. Einer seine wildesten Verehrer war der Dirigent Hans von Bülow, schon zu Lebzeiten eine Konzertlegende. Er dirigierte zu Bismarcks Ehren im Stadttheater und ließ sich von Mathilde Gouldstikker mehrfach fotografieren. Diese hoffte über ihre devote Nähe zum Bürgertum über von Bülow auf einen Termin mit Bismarck, auch zum eigenen Ruhm. Von Bülow kommentierte Mathildes Brief mit „Hoho! Augsburg - großartig naiv! Offensichtlich war von Bülows Einfluss nicht groß genug für einen Fototermin.


Bilder aus Augsburgs Bürgertum, aber nichts Optisches vom Elend der Proletarier

Wer den Begleitband in der Hand hat und sich mit den historischen Örtlichkeiten vertraut machen will, geht den kurzen Weg von der Ludwigstraße in die Wertachvorstadt hinunter. Anschließend MUSS man den m.E. besten Beitrag der Atelier Elvira Dokumentation lesen. Dr. Gregor Nagler gelang es am Beispiel der Creme de la Creme der Augsburger Industriellen, den Riedingers, das Großbürgertum zu entrahmen und die Magermilch des Arbeiterdaseins in Augsburg gerinnen zu lassen.

Zwar spielt das Atelier Elvira in diesem Report nur eine untergeordnete Rolle, Nagler skizziert aber ein exzellentes Bild über die unterschiedlichen Lebensbedingungen von den Reichen in der Oberstadt um Dom und St. Ulrich und den Armen in den (Wertach)Vorstädten.

Wohnungen der Allgemeinen Baugenossenschaft in Augsburg.


Seine Protagonisten sind L.A. Riedinger, seine zweite Frau Bertha und eine unbenannte Mutter von drei Kindern die in der Stadtbach Spinnerei arbeitete. Riedinger, erfolgreicher Textilunternehmer, Bronzewarenfabrikant und Ballonbauer, erlangte für damalige Verhältnisse gegen Ende des 19. Jahrhunderts gigantischen Reichtum. Dazu war er elegant und beruflich innovativ. Seinen Wohlstand trug er zur Schau, erwarb das Imhof`sche Patrizierhaus am Hohen Weg, ließ es abreißen und errichtete das Riedinger-Palais (zerstört im 2. Weltkrieg). Heute steht an der Stelle das Stadtwerke-Haus. Er lebte jedoch entlang des Wertachkanals in einer Stadtvilla auf Höhe der Otto-, Erhardt- und Riedingerstraße mit einem großen englischen Garten. Heute beeindrucken dort die Geschosswohnungsbauten der Allgemeinen Baugenossenschaft.

Natürlich war Riedinger auch Kunstförderer und unterstützte die Stadt Augsburg bei Projekten wie dem Stadttheater oder der Gestaltung des Elias-Holl-Platzes. Ablasshandel im Diesseits.

 Ludwigstraße 22 in Augsburg, ca.1900.

Ludwigstraße 22 in Augsburg, in der Gegenwart.

Bertha Riedinger, Paradebeispiel des Augsburger Bürgertums

Zu einem erfolgreichen Unternehmer gehört auch eine attraktive Frau. Bertha Riedinger, ebenfalls aus bürgerlichem Hause, war sowohl Mutter als auch Trophäe Riedingers. Nagler vermittelt leider nichts über das Verhältnis der beiden zueinander. Da aber Bertha die dieselbe großbürgerliche Langeweile wie Anita Augspurg in sich trug, ließ sich ebenfalls porträtieren, um Ihrer gesellschaftlichen Bedeutung Ausdruck zu verleihen und dem goldenen Käfig zu entkommen. 

Zahlreiche Bilder von Bertha, aufgenommen von verschiedenen Ateliers zeigt Nagler. Interessant sind alle Aufnahmen, auch die vom Atelier Elvira. Sie offenbaren ungeachtet eines unterschiedlichen Blickes aus Männer- oder Frauen- Fotografenaugen, immer eine larmoyante Dame mit schauspielerischen Attitüden. Irgendwie weltfremd. Es ist dem Leser nicht klar, ob Nagler dies gewollt hat, wenn ja, dann ist es Ihm sehr gut gelungen, den Unterschied zum Leben der Arbeiterfrau in der Vorstadt offenzulegen.

Arbeiterfrau mit ihren Kindern in der Augsburger Vorstadt um 1920.

Auf den Fotos: Friedrich Hessing und rechts davon Berta Riedinger.


Unbekannte Arbeiterfrau aus der Vorstadt

Nagler zeigt viele Bilder von Fotoateliers die sich mit dem Großbürgertum befassen, im wesentlichen manieristische Selbstdarstellungen. Er hat aber keine Porträts von Arbeiterfrauen. Kein Foto aus der staubigen und lärmenden Fabrik, kein Kindbettbild einer Mutter oder Fotos aus den erbärmlichen Wohnwaben der Zinshäuser des 19. Jahrhunderts, bevor Baugenossenschaften sich um menschenwürdiges Leben kümmerten. Klar, zum einen verkauft sich Glamour und Reichtum gut. Das gilt auch noch heute, sonst gäbe es keine Regenbogenpresse. Zum anderen wen interessierte damals ein Leben in Armut, mit extrem hoher Kindersterblichkeit oder das Schuften in einem zwölf Stundentag an den Webstühlen? Die die solch ein Leben zu ertragen hatten, bestimmt nicht. Sie konnten sich eine Fotografie zu dem nicht leisten. Arbeiterfrauen waren keine Objekte der fotografischen Abbildung, damals Ausdruck der Kunst des Schönen. So interessierten sich auch die bürgerlichen Fotografen nicht dafür, nicht mal die, die sich Frauenrechte auf das Banner geschrieben hatten.

Umso mehr trägt Nagler mit seiner Umfeldbeschreibung bei, Augsburger Lebenswelten, welche Grundlage unseres heutigen Wohlstandes sind, zu erklären.

Ein interessantes Buch mit interessanten Augsburger Orten, lesenswert.

(Mehr Information zu dieser Augsburger Ausstellung sind hier zu finden)


Edgar Mathe

Dieser Artikel erscheint in der Serie "Andere Augsburger Orte Teil 13"

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Quellen:
Die modernen Frauen des Atelier Elvira in München und Augsburg 1887-1908

Bilder:
Stadtarchiv Augsburg, Textquelle, Hessing-Stiftung, Privatarchiv Göschel, Privatarchiv Karrasch/Sauter, Überlingen, Landesarchiv Berlin, B Rep. 235-FS Nr. 187 und Autor

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